Blaulicht
Felder, Scheunen, Waldabschnitte und Fischweiher rechts und links von ihr, als sie die Straße zum zweiten Mal fuhr, alles schien ihr zwar irgendwie vertraut, aber dennoch seltsam anders. Lediglich als sie den Weiherblasch passierte, hatte sie plötzlich wieder denselben Geschmack nach frischen Wildkräutern und Süßwasserkrebsen auf der Zunge, genauso wie damals vor zwei Wochen, als sie sie gegessen hatte. Nur einige wenige Dinge im Leben bleiben unverändert, ansonsten steigt man nie zweimal in denselben Fluss – der Fluss verändert sich, du selbst veränderst dich und wirst verändert.
Gloßner hatte für sie beide gekocht – »Pohankova Kaše, eine böhmische Spezialität, meine Liebe. Hab ich aus einem Buch mit Rezepten aus dem Grenzland. Das wird Kasche gesprochen – klingt fast wie Kascha, findest du nicht?«
Es war ein ziemlich pappiger, geschmacksneutraler und leicht angebrannter Brei aus Buchweizen, und sie hatten recht schnell beschlossen, doch lieber ein Schnitzel beim Lindauer Wirt zu essen. Anschließend hatten sie bei diversen Zoigl-Bieren noch einmal die Geschehnisse der vergangenen vierzehn Tage Revue passieren lassen. Die Sonne stand als brennender Ball über dem Maisfeld des Nachbarn.
Da Kascha sowieso schon sehr weit in den Fall involviert war, hatte Staatsanwalt Tobisch sie via Mattusch gebeten, auch ein Gutachten über Gerlachs Geisteszustand und damit über seine Schuldfähigkeit anzufertigen. Dies hatte sich als keine leichte Aufgabe herausgestellt, vor allem deshalb nicht, weil sie selbst es war, die durch ihr Nachfragen höchstwahrscheinlich für genau die Eskalation gesorgt hatte, die schließlich in der Entführung Leonies gipfelte. Hochkontrolliert, intelligent, sozial perfekt angepasst hätte Wolfgang Gerlach sein krankhaft verkümmertes und zwanghaftes Innenleben noch ewig verbergen können.
»Er muss«, hatte sie Gloßner erklärt, »bereits durch Sandras Messerattacke einen ersten Riss in dieser sorgsam getünchten Fassade bekommen haben, und er hat wohl nicht damit gerechnet, dass sich ›sein Geschöpf‹ gegen ihn zur Wehr setzt.«
Der Brief, den er Sandra im Krankenhaus geschrieben hatte, war eine Konsequenz daraus, ein verzweifelter Versuch, sie noch einmal unter Druck zu setzen und sie auf diese Weise zum Schweigen zu bringen. Er konnte allerdings nicht damit rechnen, dass ein Dritter ihn liest, der den Text zu Bachs Kaffeekantate ebenso wie Sandra kannte und ihn genau als die Drohung las, als die er gemeint war.
»Und durch dein Nachfragen«, hatte Gloßner gefolgert, »sind bei ihm die Jalousien dann endgültig runtergegangen.«
Kascha hatte die Schultern gezuckt, wer blickt schon wirklich in den Kopf eines anderen Menschen. Was sie wusste, war, dass Wolfgang Gerlach während seines Aufenthalts im Klinikum irgendwann endgültig auf die andere Seite der Realität hinübergewechselt sein musste. Er hatte während ihrer Sitzungen keinerlei Anstalten gemacht, sich zu entlasten, hatte ganz im Gegenteil Begründungen für sein Vorgehen gegeben, die für den gesunden Menschenverstand vollkommen unfassbar sind. Das galt sowohl für Leonies Entführung als auch für die von Sandra und Moritz, über die er in derart lockerem Ton geplaudert hatte, als handelte es sich dabei um einen Schulausflug. Er hatte die beiden nach einer Probe in seinen Wagen gelockt‚ mit Hilfe von K.-o.-Tropfen betäubt und in sein Haus über die Grenze nach Tschechien geschafft. Dann hatte er Sandra unter, wie er das ausdrückte, verschärften Bedingungen üben lassen. Erziehungsmethoden , hatte Gerlach das genannt, aber darüber geschwiegen, was genau er unter diesen Erziehungsmethoden verstand. Fest stand, dass am Ende das physische Leben eines jungen Mannes ausgelöscht und das psychische einer jungen Frau über eine Klippe gestoßen worden war.
Sie hatten Glassplitter im Keller gefunden, und Sabine Hartung konnte zumindest so viel mit Sicherheit sagen, dass es sich dabei um die gleiche Sorte von Glas handelte, wie man sie in der Kleidung des toten Moritz Rißmann zuhauf gefunden hatte. Sie hatten einen Wasserzulauf entdeckt, über den Regenwasser aus einem Auffangbehältnis aus Plastik direkt in den Keller geleitet werden kann – dorthin, wo jenes ominöse Aquarium gestanden sein muss, das ein tschechischer Glaser im Jahre 2007 in genau diesem Keller aufgebaut hatte.
»Häckel meint«, hatte Gloßner Kaschas Bericht kurz unterbrochen, »dass sich in einer Regentonne dieselben
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