Bleakhouse
daß Sie nicht Mylady und mir erlauben würden, Ihnen wenigstens für heute nacht ein gastliches Obdach in Chesney Wold anzubieten.«
»Ich hoffe es ebenfalls«, setzt Mylady hinzu.
»Ich bin Ihnen sehr verbunden, aber ich muß die ganze Nacht durchreisen, um pünktlich morgen früh einen ziemlich weit entlegnen Ort zur festgesetzten Stunde zu erreichen.«
Damit verabschiedet sich der Hüttenbesitzer. Sir Leicester klingelt, und Mylady erhebt sich, als er den Saal verlassen hat.
Als Mylady in ihr Boudoir kommt, setzt sie sich gedankenvoll an den Kamin und beobachtet, ohne auf die Schritte auf dem Geisterweg zu achten, Rosa, die in einem Nebenzimmer schreibt. Nach einer Weile ruft sie das Mädchen:
»Komm herein, Kind! Sag mir offen, bist du verliebt?«
»O Mylady!«
Mylady betrachtet das errötende Gesicht und die niedergeschlagnen Augen und sagt lächelnd:
»Wer ist es? Ist es Mrs. Rouncewells Enkel?«
»Ja, wenn Sie erlauben, Mylady. Aber ich weiß nicht, ob ich ihn – schon liebe.«
»Schon? Du närrisches kleines Ding! Weißt du, daß er dich – schon liebt?«
»Ich glaube, er hat mich ein wenig gern, Mylady.« Rosa bricht in Tränen aus.
Ist das Lady Dedlock, die jetzt neben der ländlichen Schönheit steht, ihr mit mütterlicher Hand das dunkle Haar zurückstreicht und sie mit Augen so voll nachdenklichen Interesses betrachtet? Ja, wahrhaftig, sie ist es.
»Hör mich an, mein Kind. Du bist jung und treu und hängst, wie ich glaube, an mir.«
»Unendlich, Mylady. Es gibt gewiß nichts in der Welt, was ich nicht tun würde, um zu beweisen, wie sehr.«
»Und ich glaube nicht, daß du mich jetzt schon zu verlassen wünschtest, Rosa, selbst nicht um eines Liebhabers willen.«
»Nein, Mylady, o nein!« Rosa blickt zum ersten Mal auf, ganz erschrocken bei diesem Gedanken.
»Vertraue auf mich, mein Kind! Hab keine Scheu vor mir. Ich wünsche dich glücklich zu sehen und will dich glücklich machen, wenn ich noch jemanden auf dieser Erde glücklich machen kann.«
Mit Tränen in den Augen kniet Rosa vor ihr nieder und küßt ihr die Hand. Mylady nimmt die Hand, mit der das Mädchen die ihre gefaßt hat, und legt sie, ins Feuer starrend, in nachdenklichem Spiel abwechselnd in die linke und rechte und läßt sie dann sinken. Da Rosa sie so vertieft sieht, entfernt sie sich leise. Myladys Augen blicken immer noch ins Feuer.
Was sieht sie dort? Eine Hand, die nicht mehr ist oder nie war, oder eine, deren Berührung wie mit Zauberkraft ihr Leben hätte anders machen können? Oder lauscht sie auf den Schall auf dem Geisterweg und grübelt, was für einem Schritt er am meisten gleicht. Dem eines Mannes? Einer Frau? Dem Trippeln eines kleinen Kindes, das immer näher kommt, näher und näher? Eine melancholische Stimmung beherrscht sie. Oder warum sonst brauchte eine so stolze Dame selbst die Türen zuzumachen und einsam am Kamin zu sitzen?
Volumnia ist am nächsten Morgen abgereist, und alle Vettern und Basen haben sich vor dem Essen verflüchtigt. Alle, ohne Ausnahme, sind erstaunt, bereits beim Frühstück Sir Leicester davon sprechen zu hören, wie sich die Grenzen verwischen, die Schleusen öffnen und die Grundfesten der Gesellschaft ins Wanken kommen, wie das Beispiel des Sohnes von Mrs. Rouncewell zeige. Alle, ohne Ausnahme, sind wirklich entrüstet und schreiben es der Schwäche William Buffys als Minister zu und fühlen sich ihres Rechtes auf das Vaterland – oder einer Pension oder sonst eines Privilegiums – durch Trug und Unrecht beraubt.
Was Volumnia betrifft, geleitet Sir Leicester sie die große Treppe hinab und spricht dabei so beredt über das Thema, als wäre im Norden Englands ein allgemeiner Aufstand ausgebrochen, um ihr den Schminktopf und das Perlenhalsband zu entreißen. Und dann zerstreuen sich die Vettern und Basen unter einem großen Hin- und Herrennen von Zofen und Kammerdienern – denn es ist eine charakteristische Eigenschaft ihrer Vetter- und Basenschaft, stets Zofen und Kammerdiener halten zu müssen, so schwer ihnen auch der eigne Unterhalt werden mag – nach allen vier Himmelsrichtungen, und der Winterwind fegt einen Blätterschauer von den Bäumen an dem verlassnen Hause vorbei, als ob sich sämtliche Vettern und Basen in dürres Laub verwandelt hätten.
29. Kapitel
Der junge Mann
Chesney Wold ist zugeschlossen. Teppiche stehen zusammengerollt in den Ecken der ungemütlich aussehenden Zimmer, und der Damast tut Buße in Leinwandüberzügen. Holzschnitzerei und
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