Bleib cool Samantha
sein.
Meine jüngere Schwester Rebecca, die am Küchentisch ihre Hausaufgaben machte, schaute von ihrem Laptop auf. Rebecca ist nicht auf derselben Schule wie Lucy und ich, sondern auf der Horizon School für Hochbegabte, wo zufälligerweise auch David hingeht. Bei denen gibt es keine Cheerleader und keine blöden Anfeuerungsveranstaltungen für die Footballmannschaft, dort gibt es noch nicht mal Noten, und alle Schüler müssen eine Schuluniform tragen, damit sich keiner über den modischen Geschmack anderer das Maul zerreißen kann. Ich würde da auch viel lieber hingehen als auf die Adams Highschool, aber leider muss man quasi ein Genie sein, um an der Horizon School aufgenommen zu werden. Und ich bin laut unserer Studienberaterin Mrs Flynn zwar »überdurchschnittlich begabt«, aber eben kein Genie.
»Also, ich find’s gut«, lautete Rebeccas Urteil über meine Haare.
»Echt?« Ich hätte sie am liebsten geküsst.
Doch dann sagte sie: »Ja. Du siehst aus wie Johanna von Orleans. Wobei natürlich keiner genau weiß, wie Johanna von Orleans ausgesehen hat, weil es nur eine einzige überlieferte bildliche Darstellung von ihr gibt, und das ist bloß eine Kritzelei am Rand des Protokolls von dem Prozess, in dem sie wegen Hexerei zum Tode verurteilt wurde. Aber du siehst ein bisschen so aus,finde ich.Wie diese krakelige Zeichnung, meine ich.«
Obwohl das immer noch besser war, als beschuldigt zu werden, wie Ashlee Simpson auszusehen, fand ich es nicht sehr tröstlich, Ähnlichkeit mit einer krakeligen Zeichnung zu haben. Nicht mal wenn’s eine krakelige Zeichnung von Johanna von Orleans ist.
»Deine Eltern bringen mich um«, sagte Theresa düster.
Was noch schlimmer war, als mit einer krakeligen Zeichnung verglichen zu werden.
»Die kommen schon drüber hinweg«, behauptete ich mit mehr Optimismus, als ich empfand.
»Wäscht sich das wieder raus?«, fragte Theresa.
»Na ja, so schnell nicht.«
» Santa Maria «, stöhnte Theresa noch einmal. Und als sie bemerkte, dass ich meine Jacke anhatte, fragte sie: »Wo willst du hin?«
»Zum Zeichnen.«
»Ich dachte, der Kurs wäre dieses Jahr montags und mittwochs. Heute ist aber Donnerstag.« Theresa kann man einfach nichts vormachen. Keine Chance. Ich weiß das, ich habe es oft genug versucht.
»Stimmt auch.« Ich nickte. »Der normale Kurs schon. Aber das ist ein neuer Kurs. Nur für Erwachsene.« Mein Freund David und ich nehmen beide an einem Zeichenkurs teil, den die Künstlerin Susan Boone in ihrem Atelier gibt. Manchmal sind die Zeichenstunden die einzige Gelegenheit, uns zu sehen, weil wir beide immer so viel zu tun haben und nicht einmal auf derselben Schule sind.
Wobei das nicht der Grund ist, warum ich hingehe. Also in den Zeichenkurs. Ich will künstlerische Meisterschaft erlangen, nicht mit meinem Freund rummachen.
Obwohl wir nach dem Kurs meistens schon noch ein bisschen im Treppenhaus herumknutschen.
»Susan hat gesagt, dass David und ich so weit sind.«
»Weit genug wofür?«, fragte Theresa.
»Für den Fortgeschrittenenkurs«, sagte ich. »Einen Spezialkurs.«
»Was für einen Spezialkurs?«
»Aktzeichnen«, erklärte ich. Ich bin’s gewöhnt, von Theresa so ins Kreuzverhör genommen zu werden. Sie arbeitet schon seit einer Ewigkeit bei uns und ist so eine Art Zweitmutter für uns. Wobei sie eigentlich eher unsere Erst mutter ist. Unsere echte Mutter hat in ihrem Beruf als Umweltanwältin nämlich so viel zu tun, dass wir sie kaum noch zu Gesicht bekommen.Theresa hat selbst eigene Kinder, die alle erwachsen sind, und sogar schon ein paar Enkelkinder, es gibt also nichts, was sie nicht kennt.
Nur vom Aktzeichnen hatte sie anscheinend noch nie etwas gehört, sie fragte nämlich misstrauisch: »Was soll das sein?«
»Na, du weißt schon«, sagte ich, obwohl ich es eigentlich selbst nicht so genau wusste. »Bis jetzt haben wir ja Stillleben gezeichnet. Obst und solche Sachen. Und jetzt zeichnen wir eben lebende Objekte… Menschen.«
Ich muss gestehen, dass ich mich ziemlich darauf freute, zur Abwechslung endlich mal etwas anderes zeichnen zu dürfen als immer nur Früchte oder Rinderschädel – ganz egal was.Wahrscheinlich ist es ziemlich daneben, sich über so etwas zu freuen, aber das ist mir egal. Dann bin ich eben daneben. Mit meinen neuen Haaren bin ich wenigstens cool gothmäßig daneben.
Susan hat übrigens ein ziemliches Getue darum gemacht. Also, dass sie mir und David erlaubte, an dem Fortgeschrittenenkurs teilzunehmen. Sie
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