Von Beileidsbesuchen bitten wir abzusehen
Der See war mir nie so groß erschienen. Ich hatte das Gefühl, ununterbrochen durch ein umgedrehtes Fernglas zu schauen. Unser Blockhaus am Ufer war nur noch ein kleiner brauner Würfel; und seltsam, wenn ich die NEDO III wendete und auf den Steg zuhielt, dann wurden die weißen Villen am Strand immer winziger. Ich rieb mir die Augen, bis sie tränten; ich versuchte es mit einer Brille, aber das half nichts… Vielleicht lag es am Wetter. Die Wolken hingen tief herab, und ich glaubte zuweilen, unter einer weitgespannten Betondecke dahinzufahren. Das Wasser war grau und kam mir eigentümlich zähflüssig vor. Der Motor dröhnte monoton; der Plastikrumpf vibrierte leicht. Ich fror, obwohl mir Max unser grünes Badetuch um die Schultern gelegt hatte. Wir waren allein, nirgendwo ein anderes Boot. Auch kein Vogel, kein Fisch, kein Insekt – alles wie ausgestorben. Wie spät war es überhaupt? War es noch Vormittag? Oder schon Abend? Ich wußte es nicht… Sonderbar, daß mein Bruder von alldem nichts merkte. Für ihn war es eine Bootsfahrt wie jede andere. Er witterte nichts. Er redete von der Firma, von den Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung, von modernen Public-Relations-Methoden und von den Schwierigkeiten mit dem neuen Betriebsrat. Wie immer.
Inzwischen war es völlig windstill geworden, und als ich den Motor abgestellt hatte, um nur so dahinzugleiten, brach sich hinten an den steilen Wänden der Berge der erste Donner. Ein dumpfer, ein schauriger Ton. Es war heiß geworden, heiß und drückend schwül. Der Schweiß brach mir aus, doch ich fror noch immer. Die Luft war plötzlich stickig, das Atmen fiel mir schwer, ich jiemte wie ein Asthmakranker. Mein Bruder schien das alles nicht so richtig wahrzunehmen. Er hielt eine Zeitung in der Hand und wies lachend auf einen mehrspaltigen Artikel. Lies mal, sagte er. Doch ich konnte nicht – die Buchstaben waren viel zu klein, waren nur Punkte. Sie schreiben etwas über mich, sagte er. Dann dröhnte seine Stimme über das Wasser, drang aus vielen unsichtbaren Lautsprechern zu mir herüber, schwappte über mir zusammen: Max Nedomanski ist es mit Tatkraft , Können und Geschick gelungen, den Großen der Branche zu trotzen. Seit sie die Produktion von Multivitamin-Dragees aufgenommen haben, können die NEDO-Werke wieder einer gesicherten Zukunft entgegensehen. Das neuentwickelte Präparat NEDO-Vit ist ein ausgesprochener Verkaufsschlager geworden… Die Lautsprecher dröhnten weiter; ich hörte nicht mehr zu. Von mir, der ich das alles in die Wege geleitet und entwickelt hatte, war ohnehin nicht die Rede. Wer verschwendet schon seine Druckerschwärze, wenn es um Walter Nedomanski geht, den verwachsenen Sonderling?
Max aber strahlte übers ganze Gesicht. Er schälte sich aus seinem weiten Bademantel, um noch einmal ins Wasser zu springen. Er sah jung und kräftig aus und nicht so fett wie andere Männer seines Jahrgangs. Ich zeigte zum Himmel und meinte, das Unwetter werde jeden Augenblick losbrechen. Doch schon schwamm er im See und rief mir prustend zu, ich solle mit dem Boot in seiner Nähe bleiben, damit er jederzeit hineinklettern könne. Dann kraulte er mit kräftigen Schlägen dem westlichen Ufer entgegen. Er kam auch gut voran. Ich ließ den Motor an und fuhr seitwärts vor ihm her. Stunden schienen zu vergehen, doch ich hatte den Eindruck, als bewegten wir uns ständig auf der Stelle.
Dann brach das Unwetter los. Eine Bö peitschte das Wasser, und dann raste der Sturm. Schaumgekrönte Wellen rollten über den roten Bug des Bootes hinweg. Regen schlug mir ins Gesicht; der Uferstreifen war verschwunden. Max schrie: Los, zieh mich an Bord! Ich fuhr eine Schleife und hielt auf ihn zu. Seine Hände schossen hoch, die Finger streckten sich, es waren nur noch Zentimeter bis zum Bootsrand – da gab ich wieder Gas. Die NEDO III schoß davon. Hinter mir ertönten Schreie. Ich wartete ein paar Sekunden, dann wendete ich und fuhr zu Max zurück. Er hatte schwer mit den Wellen zu kämpfen, mußte tüchtig Wasser schlucken. Doch er war ein guter Schwimmer. Er rief, mach doch keinen Quatsch, das ist nicht sehr witzig, das geht zu weit! Ich entschuldigte mich und warf ihm eine feste Nylonleine zu. Zentimeter um Zentimeter zog er sich ans Boot heran. Schon glaubte er, es geschafft zu haben, da ließ ich die Leine plötzlich los. Im Nu lagen zwei Körperlängen zwischen uns – dann drei, vier, fünf. Er flehte und bettelte, er schimpfte und drohte, bis er so
Weitere Kostenlose Bücher