Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
beiden Wochen kaum einmal zum Ausschlafen gekommen, geschweige denn zum Sport oder ins Kino, und schon heute früh beim Aufstehen hatte sie sich darüber geärgert, nach Feierabend noch zum Seminar zu müssen. Sie war urlaubsreif. Die Überlastung machte sich bereits in andauernder Müdigkeit bemerkbar, und das war nicht gut. Jetzt allerdings bereute sie es nicht mehr, diese zusätzlichen zwei Stunden investiert zu haben. Die Frau war wirklich gut, und ihre sympathische Ausstrahlung machte es Nele leichter, eine Entscheidung zu treffen, die sie schon seit Monaten vor sich herschob.
Als der Raum sich geleert hatte, erhob Nele sich, ging zum Pult hinüber und streckte ihre Hand aus.
»Nele Karminter, Hauptkommissarin bei der Kripo Lüneburg. Haben Sie vielleicht eine Minute Zeit für mich?«
Frau Sternberg ergriff ihre Hand und sah Nele fragend an. »Außerhalb des Seminarthemas, nehme ich an?«
Nele nickte. »Es geht eher um etwas Privates. Ich bräuchte den Rat einer Expertin, ohne eine aufsuchen zu müssen … Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Dr. Sternberg lächelte und schüttelte den Kopf. »Nicht so richtig, aber Sie werden es mir erklären, denke ich. Dauert es lang?«
»Eine halbe Stunde.«
»Nun, das bekommen wir in der Pause nicht hin, und nach Ende des Seminars wird es mir zu spät, da habe ich schon etwas vor.« Sie dachte einen Moment nach. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn wir uns morgen Vormittag treffen? Ich bin noch übers Wochenende in der Stadt und könnte es einrichten.«
Innerlich stöhnte Nele auf. Morgen war ihr erster freier Samstag seit drei Wochen, und sie hatte sich darauf gefreut. Noch länger aufschieben wollte sie die Sache aber auch nicht.
»Okay«, sagte sie. »Aber nur, wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht.«
Sie verabredeten sich für neun Uhr in dem Café gleich gegenüber dem Präsidium.
Nele bedankte sich und wandte sich ab, um den Seminarraum zu verlassen.
»Soko Schranke, nicht wahr?«, rief Frau Dr. Sternberg ihr nach.
Den Begriff hatte Nele schon länger nicht mehr gehört, doch immer noch sorgte er dafür, dass sie zusammenfuhr.
»Richtig«, sagte sie, ohne sich umzudrehen, verließ eilig den Raum und folgte den anderen Teilnehmern in die Lobby.
Dort herrschte ein ordentlicher Lärmpegel. Die, die nicht vor der Tür rauchten, standen mit einem Kaffeebecher in der Hand in Gruppen herum und führten angeregte Gespräche. Nele holte sich ebenfalls einen Kaffee und stopfte sich dabei einige Schokoladenkekse in den Mund – sie hatte mal wieder das Abendessen verpasst und spürte ein unangenehmes Ziehen im Bauch.
Kauend gesellte sie sich zu einer Gruppe Kollegen, in der sie zwei Gesichter kannte; woher, fiel ihr auf die Schnelle nicht ein. Entweder waren ihr die junge Frau und der ältere Mann bei irgendeiner Ermittlung oder aber in dem riesigen Gebäude der Polizeiinspektion Lüneburg über den Weg gelaufen.
»Wir rätseln natürlich eifrig, wer unter uns der Psychopath ist«, sprach die junge Frau sie an.
»Oder die Psychopathin«, vervollständigte ein Kollege, den Nele nicht kannte. Er war groß und dick. Speckfalten stauten sich über seinem blauen Hemdkragen. Schmale Augen in einem feisten Gesicht taxierten sie, in ihrer Unhöflichkeit noch unterstützt von einem anzüglichen Lächeln. »Wie sieht’s aus, Frau Kollegin? Sie haben doch schon Erfahrungen gesammelt. Wie erkennt man einen Psychopathen?«
Nele trank von dem schlechten Kaffee und spülte die letzten Kekskrümel hinunter. Sie blickte etwas länger als notwendig in die Tasse. Es war klar, worauf der Dicke hinauswollte, und der kaum versteckte Vorwurf in seiner Stimme sollte alle daran erinnern, dass sie den Psychopathen damals eben nicht erkannt hatte. Zumindest nicht, bevor er ihren Kollegen Tim Siebert getötet hatte.
Schließlich sah sie dem Dicken direkt in die Augen. »Wenn er Sie tötet, dann wissen Sie es genau.«
Dem Kollegen gefror sein arrogantes Lächeln. Er hielt Neles Blick noch einen Moment stand, dann wandte er sich ab, um woanders ein Gespräch zu beginnen, in dem er den Ton angeben konnte.
»Ich glaube, er ist es«, flüsterte die Kollegin, stellte sich als Tanja Schildknecht vor und streckte Nele die Hand entgegen.
Nele ergriff sie und betrachtete die junge Frau. Sie war höchstens achtundzwanzig, einen Kopf kleiner als sie selbst, trug ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und blinzelte ihr aus wachen braunen Augen zu. Über ihr Kinn zog sich
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