Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
durch den Raum schweifen. Darin saßen fünfundzwanzig erfahrene und hartgesottene Polizistinnen und Polizisten. Letztere waren in diesem Fortbildungskurs klar in Unterzahl: sechs von fünfundzwanzig, wie Frau Doktor wohl gesagt hätte. Sie alle wühlten tagtäglich in den dunkelsten Abgründen menschlichen Verhaltens, und sie alle waren schockiert von dieser banalen Zahl.
Nele Karminter selbst war es auch gewesen, nachdem sie sie vor ein paar Wochen zum ersten Mal gehört hatte. Auch heute fühlte sie sich bei der Vorstellung alles andere als wohl. Diese Zahl besagte nämlich nichts anderes, als dass sie den Krieg schon verloren hatten. Nicht jeden einzelnen Kampf, auf keinen Fall, dann würde sie nicht nach Feierabend hier sitzen. Aber einen finalen, alles entscheidenden Sieg würde es nicht geben. Nicht gegen diese Legion.
»Ich weiß, was jetzt in Ihren Köpfen vorgeht, meine Damen und Herren. Ich weiß es sehr gut, glauben Sie mir. Doch so unvorstellbar Ihnen diese Zahl auch vorkommen mag, sie ist wissenschaftlich belegt. Sie ist Fakt. Vier von einhundert Menschen haben kein Gewissen. Wir Psychologen bezeichnen das als antisoziale Persönlichkeitsstörung und solche Menschen als Soziopathen, geläufiger ist jedoch der Ausdruck Psychopath. Vier von hundert, meine Damen und Herren. Man könnte auch sagen: einer von fünfundzwanzig.«
Barbara Sternberg war eine schlanke, hochgewachsene Frau von circa eins achtzig. Der Schnitt ihres brünetten, nicht ganz schulterlangen Haares wirkte etwas altmodisch, passte aber perfekt zu ihrer seriös-eleganten Kleidung. Sie trug eine weiße Bluse zu einem schmal geschnittenen, schwarzen Hosenanzug, einzig das violette Halstuch bildete einen farbigen Kontrast. Nele schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie hatte Lachfalten um die weit auseinanderstehenden Augen, und dass sie lachen und scherzen konnte, hatte sie in der bereits vergangenen Stunde des Seminars bewiesen. Jetzt aber behielt sie ihren ernsten Gesichtsausdruck bei, und Nele brauchte ein paar Sekunden, bis sie darauf kam, weshalb.
Natürlich!
Nicht einmal die Teilnehmerzahl dieses Seminars, das die Landesregierung ihren Beamten und Beamtinnen außerhalb der regulären Dienstzeit sponserte und das den Titel »Der unerkannte Soziopath« trug, war zufällig. Zeitgleich mit Nele erkannten auch einige andere, worauf Dr. Sternberg hinauswollte. Eine Frau mit rotem Haar lachte lauthals auf. Sie hatte ein kehliges, fast schon männliches Lachen und zog damit die Blicke auf sich.
»Sie haben es erkannt, nicht wahr?«, sagte Dr. Sternberg. »Nach dem heutigen Wissensstand befindet sich unter uns ein Psychopath oder eine Psychopathin.«
Gelächter. Stuhlbeine scharrten über den Fußboden. Jemand hustete.
»Sehen Sie sich um, meine Damen und Herren. Sehen Sie Ihren Nachbarn oder Ihre Nachbarin an. Sie alle haben sich im Laufe Ihrer Dienstzeit immense Menschenkenntnis angeeignet. Sie spüren schon im Ansatz, ob Ihnen jemand die Wahrheit sagt oder nicht. Also, wer ist es? Wer von Ihnen hat kein Gewissen? So ein eklatanter Mangel müsste uns doch von der Stirn des Betroffenen entgegenschreien.«
Plötzlich war es mucksmäuschenstill, und keiner traute sich, jemand anderen anzuschauen. Die Blicke richteten sich auf die Tür, den Tisch, die eigenen Finger oder den Kugelschreiber, der dazwischen tänzelte.
»Zeig dich!«, rief Doktor Sternberg plötzlich laut, und sogar Nele erschrak.
Alle Ernsthaftigkeit verschwand aus dem Gesicht der Psychologin, und sie lächelte offen und herzlich.
»Da jetzt alle wach und auf der Hut sind, schlage ich vor, wir legen eine Pause von fünfzehn Minuten ein. Stärken Sie sich, und schnappen Sie frische Luft. Nach der Pause wollen wir herausfinden, wie wir den Psychopathen unter uns entlarven können – denn freiwillig oder auf Zuruf wird er oder sie sich nicht zeigen. Danke!«
Der Applaus war mehr als angemessen. Länge und Lautstärke spiegelten wider, wie die Teilnehmer des Kurses sich fühlten: Sie waren aufgewühlt. Frau Dr. Sternberg hatte sie direkt bei ihren eigenen Ängsten gepackt.
Während sich alle anderen erhoben – am schnellsten die Raucher –, blieb Nele sitzen und beobachtete. Jetzt, in dem allgemeinen Durcheinander, machten heimlich abschätzende Blicke die Runde. Der Samen war bereits aufgegangen: Man suchte nach einem Verdächtigen, jeder für sich.
Nele hatte sich bereits vor drei Monaten für diese Fortbildung angemeldet. Allerdings war sie gerade in den letzten
Weitere Kostenlose Bücher