Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
nicht wußte, Ines, die mir fremd war und doch jemand, dessen Nähe ich mir wünschte. Und es gab einen Toten, der mir nahe gewesen war, so nahe, daß ich sein Ende als Aggression gegen mich empfand.
Während ich hinunterstarrte, fühlte ich plötzlich eine schwere Hand auf meiner Schulter. »Der Tod durch einen Sturz aus großer Höhe soll mit Lustgefühlen verbunden sein.« Wilhelms grobes Gesicht war zu einem Lächeln verzerrt. »Es gibt Leute, die solche Stürze überlebt haben und berichten, daß das Fallen so schön war wie ein Liebesakt.«
Ich machte mich los und begann den Abstieg. Er bereitete mir weniger Mühe, als ich dachte. Wahrscheinlich half mir die Verachtung des Führers, die ich fast körperlich spürte. Als wir unten waren, bedankte ich mich. Wilhelm sah mich von oben bis unten an. »Lassen Sie in Zukunft unsere Mädel in Frieden«, sagte er knapp. Dann stiefelte er davon.
»Wo wohnt dieser Vielbrunn?« fragte ich meinen Freund. »Die Tür da drüben«, sagte er, »ich warte auf dich. Laß dir Zeit. Ich gehe ein bißchen spazieren.«
Ich wunderte mich, daß Schläfti nicht mitgehen wollte. Mein Freund klumpte etwas Schnee zu einer Kugel und begann, sie zu rollen.
Wollte er etwa einen Schneemann bauen? Es war ihm zuzutrauen.
Ich klingelte an einer hohen, mit reichem Schnitzwerk versehenen Tür. Nichts geschah. Ich klingelte noch einmal. Ich kam mir vor wie ein Vertreter, der einen unverkäuflichen Artikel anzubieten hat. Und noch ein anderes Gefühl mischte sich ein. Das Gefühl, meine Wahrheit meinem Vater verkaufen zu müssen. Diesem Mann, von dem ich nur aus Erzählungen meiner Mutter wußte.
Ich vermutete, daß Doktor Vielbrunn wie die Quersumme aller Väter aussah. Und so war es tatsächlich. Ein Mensch öffnete die schwere eichene Tür, dem man ansah, daß er Autorität besaß. Es war zweifellos Doktor Vielbrunn persönlich, groß, grau, gebeugt und dadurch noch größer wirkend. Er war jovial, wie man mit einem Ausdruck sagt, der heute veraltet wirkt, weil es kaum mehr echte Jovialität gibt.
Auch ich habe mein Studium der Psychologie mit dem Erwerb des Doktortitels abgeschlossen. Ich habe eine starke innere Abwehr gegen akademische Würden und gebrauche meinen Titel daher so gut wie nie. Diesmal aber hielt ich es für angebracht, mich mit Doktor Hieronymus vorzustellen.
»Ein schöner Name«, sagte Doktor Vielbrunn mit dem Bariton einer ausgebildeten Stimme. »Hieronymus im Gehäuse. Ein besonders erlesenes Werk des großen Dürer. Soviel Melancholie und Menschenliebe darin. Sie könnten ihm Modell gesessen haben, Doktor Hieronymus. Ich sage das ohne Spott.«
Ich hatte einen gebildeten Menschen vor mir. Meine Ähnlichkeit mit dem Selbstporträt des jungen Dürer war mir wohl bewußt und zuweilen peinlich. Aber jetzt diente der Vergleich uns offenbar als Brücke der Verständigung. Doktor Vielbrunn bat mich mit einer ausholenden Bewegung seines Armes herein in das Dunkel eines Flures mit mächtigen Dimensionen.
Mein Führer glich einem Renaissancegelehrten. Die hohe Stirn, die feinen, weißen Löckchen wie eine Halbperücke auf dem Hinterkopf, die starke Nase, der markante Mund. Sein schäbiger Anzug minderte die hoheitsvolle und von Bildung zeugende Erscheinung seiner Person keineswegs.
Doktor Vielbrunn führte mich in sein Arbeitszimmer und fragte mich nach meinem »Begehr«. Der veraltete Ausdruck wirkte in seinem Munde vollkommen angebracht. Das Arbeitszimmer hatte die Ausmaße eines Ballsaales. Der Schreibtisch war mit alten Folianten und Urkunden bedeckt, das spärliche Licht drang durch tiefe Fensterhöhlen, von denen aus man einen fast so schönen Blick auf die Umgebung hatte wie vom Turm. In einer der Fensternischen stand ein Messingteleskop. Der Tubus war abwärts gerichtet auf die Stadt.
Ich sei Journalist und arbeite für eine holländische Fachzeitschrift. Mein Begehr sei, sagte ich, etwas über die Geschichte des Schlosses zu erfahren, auch über seine Architektur, die Anlage, die Baugeschichte, ob es denn Pläne gäbe. Unsere Leser seien sehr interessiert an mittelalterlicher Architektur.
Doktor Vielbrunns Miene hellte sich auf.
»Ich sehe, Sie sind kein Historiker«, sagte er. »Dazu haben Sie eine der Gegenwart viel zu zugewandte natürliche Neugier. Aber ich freue mich immer, wenn ein junger Mensch sich für die Vergangenheit interessiert. Sie ist manchmal unsere schönste Form von Gegenwart.«
Er machte eine Pause, um die Wirkung dieses von seiner schönen
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