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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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die Stille zurück. Sie wirkte nun noch gespannter als vorher, so straff und glatt wie das kostbare, grüne, elektrisch beheizte Tuch des Tisches.
    Dick kippte den Schnaps, zündete sich eine Zigarette an und drehte noch eine Runde, während der er die Lage der Kugeln taxierte. Sie lagen ziemlich weit auseinander, so weit, daß eine erneute Karambolage unwahrscheinlich war.
    Dann tat mein Landsmann etwas Unerhörtes. Er stellte sein Bierglas mitten auf den Tisch zwischen die Kugeln. Wollte er sich ein zusätzliches Handicap verschaffen? Es war äußerst provozierend. Das weitere geschah wieder sehr schnell, wie in einem gleitenden Verschmelzen der Sekunden.
    Die leichte Hocke, das Zurückwerfen des Kopfes, der Bock, das Schwingen des Queues, der Stoß, das Rollen der Spielkugel, ihr Aufprall auf die rote Kugel, ihre weitere Bahn haarscharf am Bierglas vorbei, der erste Stoß gegen die Bande, der zweite, der dritte weit entfernt auf der anderen Seite des Tisches, die lange Reise an der Klippe des Heinekenglases vorbei quer über den Filzozean auf die gelbe Kugel zu, das Einlaufen schließlich in den Hafen der Berührung.
    Es war geschafft. Die neunzehnte Karambolage, fast schon der Weltrekord. Die Spannung löste sich. Niemand applaudierte. Dafür ertönten Rufe. »Betrug!« schrie jemand. Dick sah triumphierend in die Runde. Er sog an seiner Zigarette, so daß sie hellrot aufglühte, und drückte sie mit einer schnellen Drehbewegung auf dem wertvollen Billardtuch aus. Man hörte es knistern, roch den verbrannten Stoff. Dann stürzte Dick zum Fenster, riß es auf und verschwand in der Nacht.
    Schreie der Empörung folgten ihm in die kalte Luft. Schneeflocken wirbelten herein. Der Kerl mit dem Menjoubärtchen reagierte als erster. Er stürzte zum Fenster, sprang ebenfalls hinaus. Andere folgten, viele drängten zum Eingang.
    Schläfti war plötzlich an meiner Seite. »Kein guter Ort für Holländer«, sagte er. Er zog mich in einen Gang, der an den Toiletten vorbei ins Freie führte.
    Schläfti brachte mich auf Umwegen zum Hotel. »Sei vorsichtig«, sagte er. »Bleib ruhig mal einen Tag im Bett. Hier ist dicke Luft.« Dann verschwand er im Schneetreiben.
    An der Rezeption lag ein Päckchen. Mein Name stand darauf. Niemand war da, und ich nahm es mit auf mein Zimmer, riß den Umschlag auf. Ein Holzscheit kam zum Vorschein. Ein einfaches, frisch geschlagenes Stück Holz, fast in der Form eines Buches. Ein Schriftzug ging über seine ganze Länge: »Wilhelm I. R.«
    Ich saß auf dem Bettrand und wog das Holz in der Hand. Dem Gewicht nach war es Buche. »I. R.« hieß »Imperator Rex«. Dann legte ich das Scheit auf meinen Nachttisch und löschte das Licht. Während ich einzuschlafen versuchte, sah ich Dicks Kugeln in unwahrscheinlichsten Kometenbahnen über eine grüne, elektrisch beheizte Unendlichkeit ziehen.

Siebtes Kapitel
    H eiligabend frühmorgens, der Tag, der in der Kindheit regelmäßig damit begann, daß meine Mutter mir die Schöpfungsgeschichte vorlas. Immer diese wohlige Stimmung wie vor Erschaffung einer neuen Welt. Ihr eigentlicher Schöpfer war meine Mutter. Sie verstand sich schon immer meisterhaft auf Stimmungen. Der auf der Anrichte schwebende Rauschgoldengel, der Geruch frischer Plätzchen, die auf dem Küchentisch abkühlten, der Duft einer im Backofen bräunenden Gans, die im Radio erklingenden Weihnachtslieder, der künstliche Schnee auf den Fenstersimsen und der Baum mit den neben Strohsternen Schlitten fahrenden Zwergen... die Inszenierung konnte nicht überzeugender sein.
    Als ich jetzt in den Frühstücksraum hinunterging, war er wieder da, dieser Weihnachtsgeruch. Auf allen Tischen brannten Kerzen. Auf meinem Teller lag ein Umschlag, eine Schmuckkarte von meiner Mutter. Sie mußte sich bei meinen Groninger Kollegen extra nach meiner Adresse erkundigt haben. In silbernen Riesenbuchstaben stand dort unter einer Breughelschen Winterlandschaft: »In Gedanken bei Dir.« Daneben in ihrer zittrigen Handschrift allein das Wort »Mutter«. Es tat gut. Die Art, wie meine Mutter konventionell sein kann, hat für mich etwas Beruhigendes. Es bedeutet: die Welt existiert, auch wenn sie wahnsinnig ist.
    Ich blätterte in der Zeitung. Für den Nachmittag war ein Konzert in der Musikschule am Ort angekündigt. Schüler würden im feierlichen Rahmen festliche Musik präsentieren. Ich war entschlossen, hinzugehen. Aber vor den Stunden bis dahin graute mir. Es gab Formen der Sentimentalität, die man niemandem

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