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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Aussichtsplattform, von der aus man einen Blick über die Stadt hatte. An die Felswand lehnte sich ein halb verfallener Säulenpavillon.
    »Dieser komische Tempel heißt ›Zur inneren Einkehr‹«, sagte Schläfti. »Eines unserer besten Verstecke. Siehst du das hölzerne Dach? Dort, wo es die Felswand berührt, gibt es ein paar lose Bretter. Man kann sie herausnehmen und hineinschlüpfen. Man hat den ganzen großen Dachboden für sich. Zwischen der Rückwand des Pavillons und dem Gestein klafft ein Spalt, in den man hinunterklettern kann. Von dort gibt es einen geheimnisvollen Gang ins Innere des Berges. Wir haben ihn damals ein Stück weit erforscht, aber dann hatten wir zuviel Angst.«
    Wir gingen hinunter zur Stadt. Dabei war Schläfti eifrig bemüht, mich auf glatte Stellen aufmerksam zu machen. Ich wollte meinen neuen Freund zu einem Bierchen einladen, aber er wehrte ab. »Ich trinke am Tage keinen Alkohol«, sagte er. »Außerdem habe ich noch zu tun. Komm ins Billardcafé. Dort soll es eine Überraschung geben. Komm um zehn.«
    Er gab mir seine schlaffe Hand. Irgend etwas schien ihn irritiert zu haben. Ich spürte, daß er sich hier unten in der Stadt nicht so gerne mit mir sehen ließ.
    Ich ging in eins der Lokale am Markt und aß Leberknödel mit Sauerkraut. Alle Tische waren besetzt. Überall dampften große graue Klöße auf den Tellern, umgeben von bräunlichen Krautbergen. Immer sehen die Leute so aus wie das, was sie essen, dachte ich. Einen Moment hatte ich große Sehnsucht nach provenzalischer Küche und den gebräunten Kirschpflückern und Weinbauern der Gegend dort oder nach den fischmehlweißen, langen Norwegern der Westküste.
    Ich war müde und wollte ins Hotel. Auf dem Weg dorthin sah ich Dick. Er ging über die Brücke Richtung Bahnhof. Ich erkannte ihn an seinen breiten Schultern, seiner Preisboxerhaltung und dem gedrungenen Schädel, der ihm fast halslos auf den Schultern saß. Ich beschleunigte meine Schritte, um ihn einzuholen. Auf der anderen Seite der Straße lief eine Gruppe von vier jungen Männern, auf gleicher Höhe und im gleichen Tempo wie Dick. Sie trugen alle Parkas und Jeans. Ich glaubte die Schläger zu erkennen, die Derbacher auf dem Gewissen hatten.
    Als Dick in einen Park einbog, blieben sie an einem Kiosk stehen. Einer steckte sich eine Zigarette an. Als Dick das andere Parktor erreicht hatte, setzten sie sich wieder in Marsch. Kein Zweifel, sie beschatteten ihn. Ich kannte das, diesen Wechsel zwischen Stehenbleiben und zu schnellem Gehen. Auch ich machte es jetzt so, beschattete die Beschatter. Beschatten setzt große Sensibilität voraus. Man muß sich gleichsam teilen, muß selber auch der andere sein, den man beschattet, um keine Fehler zu machen. Mir liegt diese Art der Persönlichkeitsspaltung. Ich genieße sie sogar.
    Am Bahnhof sah ich Dick wieder. Er stand vor einem Plakat mit den Abfahrtszeiten und notierte etwas in ein kleines Heft. Die vier Typen umstanden einen offenen Grill, an dem ein Mensch im Metzgerkittel Thüringer briet. Mit Dick würden sie es nicht so leicht haben wie mit Derbacher, dachte ich. Aber ich hatte Angst um ihn. Ich duckte mich, so gut es ging, zog den Kopf ein, machte mich kleiner und folgte Dick die Treppen zum Stationsgebäude hoch. Die Männer am Würstchenstand schienen mich keines Blickes zu würdigen.
    Die Halle war leer, niemand vor dem Fahrkartenschalter. Ich ging auf den Bahnsteig, auch dort war niemand.
    Ich nahm mir die Bahnhofstoilette vor. Sie war in einem unbeschreiblichen Zustand. Es war kaum auszuhalten in der beißenden Luft, dem Lysol- und Fäkaliengestank. Auf der schmutzigen Wand stand: »Wir sind das Volk«, darunter ein kopulierendes Paar in dem üblichen, immer noch an archaische Felsmalerei erinnernden primitiven Zeichenstil.
    Auch hier niemand, also probierte ich die letzte Möglichkeit: das Bahnhofsrestaurant.
    Als ich die Tür öffnete, schlugen mir Lärm und Qualm entgegen. Es war voll, und es gab mehr Leben hier als in sämtlichen Lokalen, die ich bisher besucht hatte. Penner, Vertreter, Ossis, Wessis, Nutten, Schüler, Ehepaare, auf den ersten Blick schien es mir ein komprimierter Querschnitt der Bevölkerung hier zu sein. Eine Stimmung wie im Karneval, Gelächter, Zwischenrufe von Tisch zu Tisch, mehrere rotgesichtige Kellner, die mittranken, eine wohltuende kleine Säuferapokalypse.
    Ich lauschte einen Moment den derben politischen Witzen, den Zoten und Anspielungen auf die rote Vergangenheit, auf die

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