Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
Orgel in verschwimmenden Tönen ausgewimmert hatte, wollte ich meine Hände zum Klatschen heben, doch rechtzeitig begriff ich, wo ich war. Ich zog mich unbemerkt zurück.
Es war früher Nachmittag, und ich war hundemüde. Unbedingt mußte ich vor dem Konzert in der Musikschule noch ein wenig schlafen.
Vor dem Hotel stand Schläfti. Er sah aus wie ein geprügelter Hund. »Ich habe dich im Stich gelassen«, sagte er. »Das war feige, das war nicht Schläftis Art. Ich habe vor niemandem Angst.«
Er wirkte nicht, als ob er für diese Behauptung seine gebrochene Hand ins Feuer legen würde.
»Alles in Ordnung, Schläfti«, sagte ich. »Du hast mir schon sehr geholfen.«
»Wenn du willst, zeige ich dir alles im Schloß. Auch die Grüne Grotte. Ich weiß einen Weg, den niemand außer mir kennt. Ich war schon da. Vor drei Jahren.«
»Als du deinen Unfall hattest?«
Ich betonte das Wort »Unfall« so, daß die Ironie nicht zu überhören war.
Schläfti nickte. Er bohrte seine Hände in die Jackentaschen.
»Sie haben dich entdeckt und dir dann sehr weh getan, so war es doch, Schläfti.«
Ich hatte, so viel ich vermochte an Freundlichkeit und Wärme, in meine Stimme gelegt. Die Folge war, daß Schläfti sich mir an den Hals warf. Wie ein junges Mädchen. Schluchzend, sich anschmiegend, Schutz und Liebe suchend, weil Schutz und Liebe eins sind.
Ich erwiderte die Umarmung, schlang auch meine Arme um ihn, preßte mein Gesicht an seines, streichelte seinen Rücken, flüsterte in sein Ohr: »Es wird alles gut, Schläfti, ich bin ja bei dir.«
Wir standen lange so vor dem Hotel im Regen. Die Passanten machten einen großen Bogen um uns. Jemand schaufelte wieder Briketts von einem großen Haufen, der den Bürgersteig versperrte, durch ein Fenster direkt in den Keller des Hotels.
»Wann kannst du mich zur Grünen Grotte führen?« fragte ich an Schläftis Ohr.
Er hob den Kopf und sah mich an, mit Tränen in den Augen. »Morgen, morgen ist eine gute Gelegenheit. Am ersten Weihnachtsfeiertag wird es leichter sein, da sind alle mit sich beschäftigt. Morgen mittag, wenn alle essen.«
Schläfti ging, und ich legte mich ins Bett und schlief bis gegen sechs, als es draußen schon dunkel geworden war.
Das Weihnachtskonzert sollte um acht Uhr im Unteren Schloß stattfinden. Ich war pünktlich und folgte den Hinweisschildern. Sie führten mich eine breite Sandsteintreppe mit prunkvollem schmiedeeisernen Geländer hoch in eine goldverzierte Kuppel, von der es in den ausgebauten Dachstuhl eines der Flügel des Gebäudes ging. Alles war in weitaus besserem Zustand als oben auf dem anderen Schloß. Man hatte renoviert, dabei allerdings auch einiges an sozialistischem Mief in die barocke Innenarchitektur eingeschleppt. Die Lampen im Musiksaal zum Beispiel erinnerten fatal an jene Scheinwerfer, mit denen man einst Grenzverletzungen beleuchtet hatte. Aber es war doch im ganzen eine schöne, feierliche Atmosphäre, ein Ambiente, das die Nestwärme Gleichgesinnter, dem Wahren, Schönen und Guten verpflichteter Bürger vermittelte.
Ich setzte mich in die letzte Reihe des Gestühls und nahm das Programm zur Hand. Zwei von mir besonders geliebte Stücke würde ich im Verlauf des Konzertes zu hören bekommen. »Syrinx« von Claude Debussy und Bachs Sonate in C-Dur für Traversflöte. Ich spiele beide Stücke und spielte sie sogar in früheren Tagen recht gut. Ich war gespannt, ob es ideologisch bedingte Nuancen der Interpretation geben würde. Vielleicht mehr Drill hier, mehr Sehnsucht auch, gegenüber den fast immer ein wenig jazzig klingenden Versionen niederländischer Musiker.
Der Saal war halb gefüllt. Fast alles offenbar Familienmitglieder der Musizierenden. Auch die Lehrer waren anwesend. Der Institutsleiter hielt eine kurze Rede, in der er die auf einen berühmten Geiger zurückgehende Tradition der Schule rühmte und die Chancen der Wende für junge Musiker der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik pries, sich nun in der westlichen Musikwelt zu bewähren. »Wir haben nicht nur etwas geschenkt bekommen«, sagte der Mann in wohltuender Offenheit, »sondern wir haben auch etwas zu verschenken, unsere unverbrauchte Freude an einer Wirklichkeit nämlich, die weder Grenzen noch Tabus kennt. Es ist die unvergängliche Wirklichkeit der Töne, Rhythmen und Klangfarben. Sie hat nie Schaden genommen an den Verblendungen der Politik. Ich gehe so weit zu behaupten: politische Systeme sind in sich unmusikalisch.«
Der Applaus war
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