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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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musizieren.«
    Der Abschied war merkwürdig. Wir umarmten uns wie ein altes Ehepaar, das durch eine Reise vorübergehend getrennt wird. Nadja reichte mir eine Tüte mit geschmierten Brötchen, Reiseproviant. »Komm heil wieder zurück«, flüsterte sie.
    »Sollten wir uns hier nicht wiedersehen, besuch mich in Holland, in Groningen. Es gibt ausgezeichnete Musiker dort.« Ich gab ihr meine Telefonnummer und meine Adresse. »Aber nicht weiterzeigen«, sagte ich. Sie sah mich mit großen Augen an und preßte ihre Arme noch fester um meinen Hals. »Dir kann nichts geschehen«, sagte sie ernsthaft, »ich beschütze dich mit meinen Gedanken.«
    Auf meine Bitte hin ließ sie mich durch die Hintertür hinaus. Ich gelangte durch einen großen Garten auf einen schmalen Weg, der an einem Waldrand entlang zurück in die Innenstadt führte.
    Jetzt war mir auch klar, warum die Luft hier so gut war. Der Ortsteil, in dem Nadja wohnte, lag flußaufwärts in einem Talarm, der aus dem Kessel herausführte. Von hier strömte kühle Luft nach, die dann im Zentrum durch die Öfen und Schlote erwärmt und verpestet wieder aufstieg.
    Ich fühlte mich leer. Mit jedem Schritt verlierst du an Identität, dachte ich. Sie rieselt aus dir heraus wie Korn aus einem aufgeschlitzten Sack.
    Vielleicht litten wir alle inzwischen an Verfolgungswahn. Vielleicht war dies die seelische Grundverfassung allen Lebens. Verfolgungswahn vom Augenblick der Geburt an. Irgend jemand war hinter uns, der es auf uns abgesehen hatte. Dieser Jemand waren wir selbst oder das, was wir zu sein beanspruchten. Da wir immer hinter unseren Ansprüchen und Wünschen zurückblieben, bildete sich ganz allmählich über die Jahre jenes Phantom der Enttäuschung aus, das uns auf den Fersen blieb, bis es uns in die Grube gehetzt hatte. Vielleicht gab es nur einen Ausweg: die Flucht nach vorn. Die Flucht in die Einbildung hinein, in die Phantasmagorien, in all das Erfundene und Erträumte, das noch nicht der Desillusionierung zum Opfer gefallen war.
    Ich beschleunigte meine Schritte, ging geradewegs und am hellichten Tag zum Schloß empor. Bald hörte ich die irren Hunde bellen. Plötzlich wußte ich, daß es die Hunde des Kaisers waren. Und dann hörte ich Axthiebe, pausenlos, immer wieder der trockene Aufprall der Schneide und das kurze Aufstöhnen sich spaltenden, zerreißenden Holzes.
    Dann sah ich sie. Eine schwarzgekleidete Frau, tief verschleiert. Sie stand vor dem Plakat, als sei sie eben aus ihm herabgestiegen. Und sie starrte mich an, wie mir schien, obwohl ihre Augen nicht einmal als Glitzern zwischen den dichten Maschen ihres Schleiers zu erkennen waren. Dann ging sie zum Eingang des Treppenhauses und verschwand.
    »Ausverkauft« klebte quer über dem Plakat. Irgendwie hatte mich ihr Gang an meine Mutter erinnert. Sie hatte die Angewohnheit, zu kleine Schritte zu machen, als koste jede Entfernung zuviel Energie, die sich am Ende nicht lohne. Übrigens erinnerte sie mich auch an Frau Holle. Alle Mütter dieser Welt haben etwas von Frau Holle. Man muß für sie arbeiten, um Anerkennung und Liebe zu finden. Betten schütteln, daß es schneit. Selbst im Sommer.
    Während ich noch unschlüssig vor dem Eingang stand, hörte ich von drinnen plötzlich ein Lied:
    Machen wir’s den Schwalben nach,
Bau’n wir uns ein Nest!
Bist du lieb und bist du brav,
Halt ich zu dir fest!
     
    Bist du falsch, o Schwalberich,
Fliegt die Schwälbin fort!
Sie zieht nach dem Süden hin,
Und du bleibst im Nord!
    Ich sang mit, es ging gar nicht anders, und ich hatte dabei das Gefühl, daß eine fremde Stimme aus mir sang, eine brüchige Stimme: die meiner Mutter. Ja, sie war es gewesen, die diesen Schlager oft in meiner Kindheit gesungen hatte, wenn sie wollte, daß ich einschlief. Dabei hatte sie in mein Bettchen gegriffen und bei den Worten »Bau’n wir uns ein Nest« die Kissen und das Federbett eng um mich gedrückt.
    Ich glaubte damals, es sei unser Lied. Erst viel später erfuhr ich, daß das Lied aus der Csárdásfürstin, ihrer Lieblingsoperette, stammte.
    Ich trat ein und stieg das Treppenhaus hoch. Vorbei an der Tür des Verwalters. Ein Stockwerk höher lag ein großer Flur. Offenbar diente er als Foyer. An den Wänden hingen Bühnenfotos. Auf einigen von ihnen erkannte ich den Schauspieler aus dem Kulturkaffee. Er schien den Edwin zu spielen, die männliche Hauptrolle. Eines der Fotos zeigte ihn, wie er vor einer frivol gekleideten Dame kniete. Sie hatte ihre nackten Arme

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