Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
Binnenschifferpatent. Natürlich kam es nie dazu. Sein Ziel erreichte er immer nur nach zahllosen Genevern in seinen berauschten Träumen.
Ich ging ins Hotel zurück und legte mich in ein Bett, das leicht zu schwanken schien wie einst Dicks Schute, wenn auf dem Meer draußen Sturm war und kleine Sekundärwellen bis ins Hafenbecken ausschwärmten. Ich nahm das Buch zur Hand, das Dick seinem Brief beigelegt hatte. Die berühmte Märchensammlung der Brüder Grimm. Mein Freund hatte im Inhaltsverzeichnis einen Märchentitel mit Kugelschreiber umrandet, und diesen Text las ich jetzt vor dem Einschlafen. Er hieß: »Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.«
Zweites Kapitel
D er Himmel dieses Tages war weiß und prall wie ein Kissen der Frau Holle, das die faule Pechmarie nicht schütteln mochte, um die Federn stieben zu lassen. Irgendwann fuhren wir über die ehemalige Grenze. Ich hatte etwas von der Mauer gehört, von Selbstschußanlagen, Wachttürmen, Minenfeldern. Nun war das meiste davon entfernt. Aber die Grenze war dadurch nicht verschwunden. Ein Streifen Niemandsland, der, wie mir schien, unendlich tief in die Erde hinabreichte und genauso weit in den Himmel darüber. Es war, als verlöre an dieser Stelle alles ein wenig von seiner Farbe, von seiner genauen Gestalt. Etwas Diffuses ging von den Gräsern und Bäumen aus, die hier wuchsen, wie auf einer verwackelten Fotografie. Der Zug fuhr plötzlich sehr langsam. Auch das alte Geräusch von Rädern auf nicht verschweißten Schienen war plötzlich wieder da. Dieses rhythmische Klacken, das in meiner frühsten Kindheit für mich die Erfahrung Zugfahren geprägt hatte.
Ich mußte umsteigen. Auch hier auf dem Bahnsteig war man in einer anderen Zeit. Immer noch Vorkriegszeit, die auf den rostbraunen Schwellen lag und hinter den blinden Fenstern der Bahnwärterhäuschen hockte. Die Stimme aus dem Lautsprecher gehörte keiner bekannten Landessprache an. Das war kein Deutsch, sondern ein unverständliches, aggressives Stöhnen aus dem Souffleurkasten der Geschichte.
Dann saß ich in einem anderen Zug. Ich versuchte, ein Bild von der Landschaft zu bekommen. Es war kaum möglich, denn die Fensterscheiben waren so verschmutzt, daß alles draußen in einem trüben Braun versank, selbst das Blau des sonnigen Himmels. Wir fuhren in einer Art Sichtgefängnis, und nur weil ich mir einen Fleck freirieb, erspähte ich überhaupt etwas von der Außenwelt.
Es ging einen Fluß entlang, an dessen Ufer nun andere Ruinen die Dekoration bildeten. Verbeulte Kühlschränke, Autoleichen, Rollen von nie genutztem Stacheldraht.
Einmal mußte ich umsteigen in einer mittelgroßen Stadt. Hier herrschte Nebel. Auf dem Bahnhofsvorplatz war ein kleiner Weihnachtsmarkt. Drei bis vier Würstchenbuden, ein Verkaufsstand für ärmliche Kleidung, eine Kindereisenbahn, die sich, auf echten Schienen ratternd, zu aus einem Lautsprecher plärrenden Weihnachtsliedern im Kreise drehte. Es gab nur einen Fahrgast: ein ungefähr dreijähriges Kind, das in einem offenen Güterwagen saß und sich mit blaugefrorenen Händen an den Wagenseiten festhielt. Es lächelte ein verzückt blödes Lächeln. Das Christkind, das auf eine verrückte Welt zurückgekommen war, um zu verkündigen, daß es hier nichts mehr zu erlösen gab.
Weiter ging es, tiefer in dieses Land am Ende der Welt, wo die Hyperboreer lebten, ein heiliges Volk, dem ein tausendjähriges Leben beschieden war, das weder Krieg noch Streit kannte, weder Krankheiten noch Siechtum. Die Hyperboreer starben, so hieß es, eines freiwilligen, raschen Todes, wenn sie das ewige Glücklichsein satt hatten. Ich sah mich um. Viele Menschen waren im Wagen, aber sie sprachen nicht miteinander. Sie glichen Vieh, das man transportiert, und es gibt nur einen einzigen Grund, Vieh zu transportieren: es zu schlachten. Wenn dies die Hyperboreer waren, dann hatten sich alle Merkmale der Legende ins Gegenteil verkehrt.
Niemand beachtete mich. Und allmählich wurde ich angesteckt von der nämlichen Gleichgültigkeit. Auch ich schaukelte bald mit Kopf und Gliedern, weil mich eine Schlaffheit überkam, die den mechanischen Stößen der Fahrt willenlos ausgeliefert war.
Einmal stieg ein Mensch ein, der sich deutlich von den anderen unterschied. Er trug einen teuren Kaschmirmantel und eine Jockeymütze. Seinen schwarzen Diplomatenkoffer hielt er krampfhaft fest, während er lautstark auf die Langsamkeit des Zuges schimpfte, den Dreck, die Tatsache, daß es kein
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