Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
Erstes Kapitel
I ch glaube nicht an Zufälle, aber ich halte auch nicht viel von der Vorsehung. Es muß etwas dazwischen geben, etwas, das Willkür und Schicksal auf rätselhafte Weise miteinander verknüpft. Die wahren Überraschungen des Lebens kommen zuweilen dabei heraus. Begebenheiten, die wie Schauspieler auf ein Stichwort hin genau im richtigen Moment aus den Kulissen auf die Bühne unseres Daseins treten, um ihren unvermeidlichen Auftritt zu absolvieren. Wie anders ist es zu erklären, daß meine Mutter mir zum ersten Advent dieses Jahres »Die Winterreise« schenkte, eine Schallplatte mit deutschem Gesang, voller Dunkelheit der Wörter und Süße der Melodien, und daß ich kurz danach tatsächlich eine Winterreise nach Deutschland antreten mußte, keine dienstliche Reise übrigens, sondern eine private, die zu unternehmen ich mich wegen des brieflichen Hilferufes eines Landsmannes genötigt sah.
Meine Mutter schenkt mir, seit ich erwachsen bin, immer etwas zum ersten Advent, dafür nie etwas zu Nikolaus. Zur Begründung sagt sie: »Zuneigung kann man nicht in der Stunde der Erfüllung zeigen, immer nur in der Stunde der Verheißung.«
Als ich sie fragte, was sich hinter dieser Lebensregel verberge, erklärte sie: »Du müßtest dich eigentlich noch gut daran erinnern, lieber Sohn. An deine Wunschkatastrophen. Du hast dir zum Nikolaustag immer ein ganz besonderes Geschenk gewünscht, eine Kinderschreibmaschine, ein Akkordeon, einen ferngelenkten Panzer. Wir haben dir jedesmal den Wunsch erfüllt, aber immer warst du dann nach der ersten kurzen Freude enttäuscht. Es war eben einfach der falsche Zeitpunkt zum Schenken. Der 6. Dezember, das ist doch kein Datum für private Geschenke. Immer der gleiche Tag, ich bitte dich. Und dann dieser häßliche alte Mann! Vorfreude ist die schönste Freude, mein lieber Sohn. Glaub mir, der erste Advent ist einfach ideal. Man soll Geschenke in die Strömung der Erwartung werfen, solange sie noch stark und frisch ist.«
Meine Mutter sagt viel so schöne Sätze in letzter Zeit. Als ich sie darauf ansprach, meinte sie, es liege an ihrem nahenden Tod. Es seien alles Schlußworte des Lebens, die sie ausprobiere. Sie lachte und zeigte ihre ebenmäßigen, künstlichen Zähne. Und sie duldet keinen Widerspruch. »Red nicht so dummes Zeug«, sagt sie jedesmal barsch mit ihrer herrischen Stimme, wenn ich auf ihre gute Gesundheit und ihr rüstiges Aussehen anspiele. »Wenn man wie ich mit einem Bein im Grab steht, dann gleicht man einem Flamingo, der sich aus Versehen auf einem Sumpf niedergelassen hat.« Sie hat wieder eines dieser letzten Worte gefunden, und ich muß mich geschlagen geben.
Ich reise gerne, und dennoch fällt es mir jedesmal nicht leicht, den ersten Schritt zu tun. Nervosität befällt mich bei Reisebeginn, ich leide an Kurzatmigkeit und Pulsrasen. Vielleicht hängt es mit einem berühmten Kinderlied zusammen, das meine frühesten Lebensjahre begleitet hat. Meine Mutter sang es mir oft vor mit ihrer schönen Altstimme. Ein deutsches Kinderlied übrigens. »Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein. Stock und Hut steht ihm gut, ist gar wohlgemut. Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr...«
Spätestens ab dieser Zeile ist es vorbei mit dem Wohlgemutsein. Schuldgefühle, Reisefieber, Trennungsangst stellen sich ein und überschatten den Aufbruch.
Vor jeder meiner Reisen gibt mir meine Mutter eine Abschiedsaudienz in ihrer schönen Villa mit den großen Rhododendronbüschen davor, der weißen Fahnenstange und dem kunstvoll verwilderten Garten hinter dem Haus, den sie trotz ihres Alters mit großer Beharrlichkeit pflegt. Diese Abschiede sind ein Ritual. Immer haben sie den Charakter von Endgültigkeit, unsere kleinen Beerdigungen, in denen wir beide wohl jedesmal die Hoffnung begraben, einander zu verstehen.
Während meiner letzten Reise hatte meine Mutter eine Herzattacke. Seitdem ist sie aufgeblüht. Sie hat jetzt rote Bäckchen und sieht wie ein kleines Mädchen aus, das sich in die Puppe verwandelt hat, mit der sie am liebsten spielt. Wie gewöhnlich gab sie mir auch diesmal Anweisungen, wie ich mich zu verhalten hätte. Sie war nicht von der fixen Idee abzubringen, daß ich es mit lauter Russen zu tun bekäme. »Die Russen sind grausam«, sagte sie. »Aber sie verstehen etwas von Tee. Ich rate dir, mein Sohn, dich auf nichts anderes mit ihnen einzulassen als auf Teetrinken.« - »Ich fahre nach Ostdeutschland, Mutter«, hatte ich
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