Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
ist. Ich war weit entfernt davon, traurig zu sein. Ingrid war nur noch ein Bild mit den Eigenschaften eines polizeilich erstellten Phantomfotos. Eine Montage aus einzelnen Bildpartien, Frisur, Stirn, Augen, Nase, Mund, Kinn. Alles einzeln verändert und zuletzt per Knopfdruck zu einem scheinbar Ganzen gemacht.
Ich nestelte den Brief aus meiner Jackentasche, den mir Dick vor wenigen Tagen geschrieben hatte. Ein Brief aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, die nach allem, was ich wußte, weder richtig deutsch noch demokratisch noch republikanisch gewesen war. Eher ein undefinierbares Konglomerat aus internationalen Interessenkonflikten und den neurotischen Potentialen ihrer Opfer.
Das Kuvert war aufgerissen und wieder zugeklebt worden. Dick hatte in einer großen, fahrigen Handschrift folgendes geschrieben:
»Lieber Piet, alter Kumpel, entsinnst Du Dich noch an die großen Zeiten auf meiner alten Dschunke, als wir im fieberverseuchten Delta des Bathangari lagen, in einem Tropenregen aus Genever, und die Affen um uns herum wie verrückte, rote Teufel durch die Wipfel turnten? Ich weiß, daß du diese Zeit nicht vergessen hast und Deinen alten Dick auch nicht, der jetzt in großen Schwierigkeiten steckt und Dich bitten muß, ihm aus der Patsche zu helfen. Ich werde Dir sagen, worum es geht, aber Du mußt schon deinen Kopf bemühen, um alles zu verstehen. Da es nicht auszuschließen ist, daß man den Brief öffnet - du weißt, sie haben hier große Übung in solchen Sachen -, werde ich manches nur andeuten.
Einige Jahre nachdem wir uns aus den Augen verloren, habe ich eine Buchhändlerin kennengelernt. Sie war ganz anders als die Mädchen, die ich sonst hatte. Sie war mir geistig überlegen, Piet, und das hat mich verrückt gemacht nach ihr. Sie war schön und belesen, aber sie hatte kein Herz. Ich habe mein Schiff aufgegeben, weil sie es wollte, und dann haben wir in Breda einen Buchladen aufgemacht. Ich habe schon immer gerne gelesen, und daher schien mir mein Schritt logisch zu sein. Aber ich bin dann überhaupt nicht mehr zum Lesen gekommen. Denn ich habe die Finanzen machen müssen, den ganzen Papierkrieg, weißt Du. Und sie stand im Laden und hat verkauft. Sie konnte jedes Buch an jeden loswerden, wenn sie wollte. Eine Weile ging es uns gut. Dann hat sie eine Liebschaft mit diesem Kerl aus Amsterdam angefangen, unserem Steuerberater. Ich hätte es nie herausbekommen, so gut konnte sie schauspielern. Aber einmal bin ich zu früh von einer Reise zurückgekommen. Sie hatten es sich in unserem Bett bequem gemacht. Da bin ich durchgedreht. Und dann war es vorbei. Der feine Kerl hatte es verstanden, mir die ganzen Schulden anzudrehen.
Es war im Jahr der Wende, wie man hier sagt. Und da hatte ich die Idee, ich mache bei denen im Osten einen Buchladen auf. Ich bildete mir ein, inzwischen von diesem Geschäft’ne Menge zu verstehen, und ich dachte, die haben so lange geistig auf dem trockenen gesessen, daß sie jetzt wie die Verrückten lesen werden. All das, was vorher verboten war. Die Idee war auch gut, aber die Wirklichkeit war anders. Sie hatten kein Geld, und sie hatten vielleicht auch Angst vor dem Neuen, vor dem Unbekannten. Ihnen war zu lange eingetrichtert worden, daß aus dem Westen nur dekadentes Zeug kommt. Zuerst ging wieder alles ganz gut. Du weißt, daß ich seit meiner Zeit als Seemann so gut Deutsch spreche, daß mich jeder Hamburger für einen Landsmann hält. Hier ist es fast eine Fremdsprache, wenn man Hochdeutsch mit norddeutschem Akzent redet.
Aber das war nicht das eigentliche Problem. Das Problem war, daß die Leute hier so eine komische Art haben, daß ich nicht weiß, was mit ihnen los ist. Ich kann ihnen nichts verkaufen. Ich verstehe sie nicht. Ich verstehe mich auch nicht mehr. Es ist wie eine Krankheit, eine ansteckende. Du weißt, daß ich schon immer ein großer Träumer war, ein professioneller, würde ich sogar sagen. Und das heißt, daß ich ebensogut die Wirklichkeit erkenne, wie ich träumen kann. Das eine geht nicht ohne das andere. Hier aber fließt es ineinander, die Träume und die Realität. Ich kann sie nicht mehr unterscheiden. Es ist die Welt des Deutschlings!
Alles ist wie ein schlechtes Theaterstück. Wenn mir jemand die Hand gibt, ist es gespielt. Sollte mich jemand erschlagen, wäre es eine Realität, die ich für ausgedacht halten könnte. Ich habe Angst, Piet. Wenn man Sein und Schein nicht mehr unterscheiden kann, ist man verrückt geworden,
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