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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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war zu hören außer dem durch die Büsche gedämpften Straßenverkehr und dem Rauschen des Flusses. Über mir sah ich echte Sterne zwischen den Zweigen. Auch der kohlschwarze Schatten des Schlosses war zu sehen mit seinen gelben Fensteraugen. Dort wurde jetzt aus voller Kehle gesungen, Paare, die sich trennten und wieder verbanden, Liebe im Dreivierteltakt, die Komtesse Stasi mit Edwin Ronald Fürst von und zu Lippert-Weylersheim, Graf Boni mit Silvia Varescu, der verschleierten Chansonette. Die Männer Schwindler, die Frauen Drachen, die Liebe ein Witz im Verwechslungsspiel. Eigentlich ein zutiefst dekadentes und defätistisches Stück, diese Csárdásfürstin, dachte ich. Eine gesungene Form der Gewalt. Alle Gewalt hat etwas von einer Operette.
    Als ich mich einigermaßen sicher fühlte, verließ ich mein Versteck und ging am Seeufer entlang Richtung Tunnel. Zwischen der Straße und dem Park verlief die Trasse der Bahn. Das Bahnwärterhäuschen am Ende des Sees schien unbewohnt. Alles war dunkel, die Läden geschlossen. Ich klopfte und hörte tatsächlich sogleich Geräusche. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ich konnte nichts sehen, aber eine tiefe Stimme, die mich an die meiner Mutter erinnerte, fragte mich, was ich wolle.
    Ich bat darum, eingelassen zu werden.
    Erstaunlicherweise öffnete sich jetzt die Tür vollständig, und im schwachen Schimmer eines kaum beleuchteten Hintergrundes sah ich die Silhouette einer Frau. Ich trat ein, und sie schloß und verriegelte die Tür hinter mir.
    Ich folgte ihr in einen Raum, in dem es angenehm warm war. Ein Feuer flackerte in einem offenen Kamin. Jetzt nahm ich das Äußere meiner Gastgeberin deutlicher wahr. Sie schien ziemlich alt zu sein, hielt sich schlecht, ihre Haare waren ungekämmt, zottelig und grau. Die beiden oberen mittleren Schneidezähne fehlten ihr, die Gesichtspartien unterhalb ihrer Augen waren angeschwollen. Ihr Blick war unstet und dennoch liebenswürdig. Die Wesensähnlichkeit von Mutter und Sohn war nicht zu übersehen.
    »Setzen Sie sich ans Feuer«, sagte sie. »Ich hole uns was zur Stärkung.«
    Merkwürdig, wie vertraut mir alles war. Ich zog den alten Ledersessel, dem an verschiedenen Stellen das Stroh aus den Nähten wuchs, näher ans Feuer und versank darin. Sie kam mit einer Flasche ohne Etikett zurück und zwei großen Gläsern, setzte sich zu mir auf einen Korbstuhl. Wir tranken uns zu. Das Zeug war scharf, irgendein Kartoffelschnaps vermutlich. Als hätte sie meine Gedanken erraten, sagte sie: »Wodka. Von den Besatzern. Ich habe einen Vorrat. Er war billig, und er ist ehrlich. Er schmeckt nicht, aber er wirkt.«
    Lange Zeit starrten wir stumm in die züngelnden Flammen. Zuweilen stand sie auf und legte Holz nach. Auf einer Kommode summte ein Samowar. Hin und wieder holte ich mir eine Tasse schwarzen, süßen Tee.
    Es tat gut, daß sie mir keine Fragen stellte. Sie sagte nur einmal: »Sie sind ein Freund meines Sohnes. Das ist schön. Er hat nicht viele Freunde hier.«
    Langsam trank ich, in sehr kleinen Schlucken, abwechselnd Tee und Schnaps, um nicht zu schnell betrunken zu werden. Immer tiefer versank ich in einen Frieden, wie ich ihn lange nicht mehr empfunden hatte, vielleicht seit frühester Kindheit nicht mehr.
    Plötzlich begann sie zu reden. Der Ton ihrer Stimme war undeutlich, wahrscheinlich lag es weniger an den fehlenden Zähnen oder dem Alkohol als daran, daß sie nur mit sich selbst zu sprechen gewohnt war.
    »Heute ist es genau vierzig Jahre her. Es war am zweiten Weihnachtsfeiertag, als sie auf unseren Hof kamen. Morgens um sechs Uhr, als alles noch finster war und meine Eltern noch schliefen. Zwanzig Männer in schweren grauen Mänteln. Die Autos hatten sie vor dem Hoftor stehen lassen.
    Niemand vom ganzen Dorf wagte sich an diesem Tag auf die Straße, weil alle die Autos sahen. Als die Sonne am Himmel stand und die rauhreifüberzogene Landschaft beschien, lag alles erstarrt wie unter einer Angst. Selbst das Vieh im Stall, die 45 Rinder, die 120 Schweine, verhielt sich stiller als sonst.
    Jeder Winkel wurde durchsucht, jedes Buch durchblättert, in jede Schublade gesehen. Die Männer sprachen kaum, wenn, dann sehr leise und in knappen, abgehackten Worten. Als ich eintraf, ich war damals siebzehn und, das können Sie sich wohl nicht mehr vorstellen, ein hübsches Mädchen, war es schon Nachmittag. Ich hatte einen Kuchen dabei, den meine Tante gebacken hatte. Als ich die vier Autos sah, erschrak ich so, daß ich den Kuchen

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