Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
man braucht jahrelange Übung, um mit ihm fertig zu werden. Setz dich, mein Sohn. Es ist nicht viel, was ich dir bieten kann. Aber in der Zeitung steht etwas, das dich interessieren wird.«
Sie legte das Blatt wie eine Serviette neben meinen Teller, auf dem Brot, Margarine, offensichtlich selbstgemachte Marmelade und saure Gurken bereitstanden, meine Magennerven zu trösten. Auf der Titelseite fand sich ein schwarz eingerahmter Artikel mit der Überschrift »Skandal in der Csárdásfürstin«.
In der gestrigen Nachmittagsvorstellung, hieß es, sei es zu einem unerwarteten und brutalen Vorfall gekommen. Mitten im zweiten Akt, der bekanntlich im Palais des Fürsten Edwin Ronald von Lippert-Weylersheim in Wien spielt, sei ein fremder Mann, vermutlich ein Ausländer, plötzlich auf die Bühne gestürmt. Gerade als der von seiner Geliebten verlassene Edwin sich mit der ihm von seinem Vater als Verlobter aufgezwungenen Komtesse Stasi anzufreunden beginnt, sei der Gewalttäter auf das Paar zugestürzt, das sich mitten im bekannten Schwalbenduett befand, habe ein paar Gegenstände umgerissen und den Sänger mit einem furchtbaren Faustschlag niedergestreckt. Sodann habe er der fliehenden Komtesse Stasi wie ein Affe nachgesetzt. Er habe an eine Art Kingkong erinnert, ihr das Kleid vom Leib gerissen und sie in ihrer Blöße niedergestoßen.
Saalordner hätten eingegriffen und den Amokläufer verfolgt. Jedoch sei er durch die Kulissen und anschließend vermutlich durch den Notausgang entkommen. Man gehe davon aus, daß sich der Attentäter noch in der Stadt aufhalte. Die Polizei kontrolliere Straßen und Züge. Die Bevölkerung werde um Mithilfe gebeten.
Es folgte eine Beschreibung des Mannes, kräftiger, untersetzter Körperbau, schwarzer Bart, orientalisches Aussehen, fremdländischer Akzent.
»Du könntest tatsächlich ein aus dem Zoo entflohener Affe aus Sumatra sein, Dick«, sagte ich. »Wo finde ich dich nur? Es wird Zeit, dich zu deinen Ahnen zurückzubringen.«
Als könne sie Gedanken lesen, sagte Schläftis Mutter, die wie eine alte Indianerin neben dem Feuer hockte und die alte Glut anfachte: »Ich wüßte einen Weg, wie du deinen Freund hier aus dem Kessel herausbekommst. Denk an den Fluß und das Paddelboot. Wir haben ziemlich viel Wasser zur Zeit. Der Fluß ist schnell. Ihr müßt nur aufpassen wegen der Wehre. Eine genaue Flußkarte habe ich noch und zwei alte Militärponchos. Wenn ihr die Kapuzen überzieht, seid ihr gut getarnt. Und wenn ihr nachts fahrt, dürfte euch sowieso niemand bemerken.«
»Ist ein Kajak im Winter nichts Auffälliges?«
»Es gibt immer wieder Verrückte, die hier Wildwassertouren auch im Winter machen. Das war zu alten DDR-Zeiten auch nicht anders.«
Ich stand auf. Mein Kopf dröhnte noch immer, aber die Idee mit dem Boot hatte mich auf die Beine gebracht. Sie paßte so gut zu Dick. Ich mußte ihn so schnell wie möglich finden.
Ich ging. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich sie in der Tür. Sie schüttelte ein Bett aus, vermutlich das, in dem ich geschlafen hatte. Da wußte ich, wer sie war. Frau Holle. Eine Frau Holle allerdings, die selber die Betten machte. Goldmarie und Pechmarie würden beide ihr Glück machen können bei ihr.
Ich ging in die Stadt. Es war unnatürlich warm, der Schnee überall weggetaut. Ich ging wie der Held in einem Western, leicht o-beinig, auf einen unsichtbaren Gegner zu, der hinter dem Horizont seine Waffe lud.
Die Straße war dieselbe, der ich am zweiten Tag meines Hierseins nach dem Kneipenbesuch mit Dick in Richtung Innenstadt gefolgt war. Sie machte einen Bogen unterhalb des Schloßberges, entlang den verrotteten Prunkvillen. Alles war scheinbar genauso wie damals. Selbst jene Tür klaffte, und ich glaubte wieder, das weiße Kleid zu sehen.
Wie viele Tage war das jetzt her? Wie viele Monate gar? Eine Ewigkeit war ich schon hier, wie mir schien, und doch war ich erst vor gut einer Woche eingetroffen.
Im Durchgang zum Marktplatz stand der Leierkastenmann. Die verstimmten Pfeifen seines Instrumentes jaulten unter dem Gewölbe unerträglich laut. Der kleine Affe zitterte und hielt sich die Ohren zu. Ich kramte nach einem Geldstück und warf es in den Blechteller.
»Sehr großzügig, der Herr«, sagte der Blinde. Hatte er am Klang erraten, daß es fünf Mark waren?
Ich war wohl übernervös. Dringend mußte ich meinen Freund finden und dann mit ihm verschwinden. Aber wo sollte ich nach ihm suchen? In seiner Wohnung? Wohl kaum. Auch nicht
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