Blind
Radio auszumachen.
Jude öffnete die Bürotür und steckte den Kopf hinein. Die Lichter waren ausgeschaltet. Da die Sonne auf der anderen Seite des Gebäudes stand, war der Raum in dunkelblaues Licht getaucht. Die Stereoanlage im Büro ein Onkyo-Turm in einem Glas-Rack, der neben dem Wasserspender stand – war zwar die drittschlechteste im Haus, aber immer noch besser als sonst so mancheHeimanlage. Die Digitalanzeige strahlte in einem unnatürlich grellen Grün, der Farbe, in dem Objekte leuchteten, die man durch ein Nachtsichtgerät beobachtete. Nur ein einzelner vertikaler Balken, an dem man die eingestellte Radiofrequenz ablesen konnte, leuchtete rubinrot. Der dünne Balken sah aus wie der Pupillenschlitz einer Katze und erweckte den Eindruck, als würde er mit der ungerührten Faszination eines Aliens in den Büroraum starren.
»… Und wie kalt wird es heute Nacht?«, sagte der Mann im Radio mit heiserer, fast schroffer Stimme. Nach dem Keuchen beim Ausatmen zu urteilen, ein fetter Mann. »Müssen wir uns Sorgen machen, dass wir auf den Straßen über erfrorene Penner stolpern?«
»Deine Sorge um das Wohlergehen unserer nicht sesshaften Mitbürger ist rührend«, sagte ein zweiter Mann, dessen Stimme ein bisschen dünn und quäkend klang.
Das war WFUM, ein Sender, der Bands spielte, die sich nach tödlichen Krankheiten (Anthrax) oder Verwesungszuständen (Rancid) benannten, und dessen DJs dazu neigten, ihre Vorliebe für Filzläuse, Stripperinnen und entwürdigende Witzeleien über Arme, Verkrüppelte und Alte zu demonstrieren. Es war bekannt, dass sie mehr oder weniger pausenlos Judes Platten spielten, was auch der Grund war, weshalb Danny die Station hörte – als Akt der Loyalität wie der Schmeichelei. Eigentlich hatte Jude den guten Danny im Verdacht, dass er überhaupt keine besonderen Musikvorlieben besaß und ihm das Radio nur als Hintergrundgeräusch diente, quasi als Audio-Äquivalent zur Tapete. Wenn er für Enya arbeiten würde, würde er glückselig keltische Gesänge mitsummen, während er ihre E-Mails beantwortete und ihre Faxe verschickte.
Jude ging auf die Stereoanlage zu, um das Radio auszuschalten, als plötzlich eine Erinnerung seine Gedankengängestörte und er stehen blieb. Vor einer Stunde war er mit den Hunden draußen gewesen. Er hatte am Ende der Wendebucht gestanden und den scharfen Wind genossen, der ihm in die Wangen stach. Ein Stück die Straße runter verbrannte jemand Gestrüpp und Herbstlaub, und auch den schwachen, aber würzigen Duft des Qualms hatte er genüsslich eingesaugt.
Danny war aus dem Büro gekommen, hatte sich die Jacke angezogen und wollte nach Hause. Sie redeten noch kurz miteinander … oder, um genau zu sein, Danny stand neben ihm und quasselte ihn voll, während Jude die Hunde beobachtete und Dannys Anwesenheit auszublenden versuchte. Auf Danny Wooten konnte man sich immer verlassen, wenn es darum ging, einen vollkommenen Moment der Stille zu ruinieren.
Stille. Das Büro hinter Danny war still gewesen. Jude konnte sich noch an das Krächzen der Krähen erinnern und auch an Dannys pausenloses Plappern, aber nicht an irgendein Radiogeräusch aus dem Büro. Wenn das Radio gelaufen wäre, dachte Jude, hätte er es gehört. Seine Ohren waren noch immer so empfindlich wie eh und je. Gegen jede Wahrscheinlichkeit hatten sie all das, was er ihnen in den letzten dreißig Jahren zugemutet hatte, unbeschadet überstanden. Dagegen litt Judes Schlagzeuger Kenny Morlix, das einzig überlebende Mitglied aus der Urbesetzung seiner Band, unter so schwerem Ohrenklingeln, dass er seine Frau nicht einmal mehr dann verstehen konnte, wenn sie ihm direkt ins Gesicht schrie.
Jude machte wieder einen Schritt vorwärts, fühlte sich aber immer noch nicht wohl in seiner Haut. Es war nichts Bestimmtes, es war alles: das trübe Licht im Büro; das grellrote Auge, das ihn von der Vorderseite des Receivers anstarrte; der Gedanke, dass das Radio vor einer Stunde, als Danny in der offenen Bürotür gestanden und den Reißverschluss seiner Jacke zugezogenhatte, noch nicht an gewesen war; der Gedanke, dass jemand erst kürzlich im Büro gewesen sein musste und immer noch ganz in der Nähe sein konnte und ihn vielleicht aus der Dunkelheit der Toilette, deren Tür einen Spalt offen stand, beobachtete – ein paranoider Gedanke, der gar nicht zu ihm passte, aber trotzdem in seinem Kopf herumspukte. Er streckte die Hand nach dem Netzschalter des Radios aus und hörte schon gar nicht mehr
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