Blinde Goettin
möglich ist. Erstens bin ich Zeugin in diesem Fall, schließlich habe ich die Leiche gefunden. Und zweitens habe ich keine Ahnung mehr vom Strafrecht. Ich hab’ mich seit dem Examen nicht mehr darum gekümmert, und das ist sieben Jahre her.«
»Acht«, korrigierte er. »Wir haben vor acht Jahren Examen gemacht. Du warst die Drittbeste unter Hundertvierzehn. Ich war Nummer fünf von hinten. Klar kannst du Strafrecht, wenn du willst.«
Er schien gereizt, und das war ansteckend. Plötzlich spürte sie die Stimmung, die sich während ihrer Studienzeit manchmal eingestellt hatte. Ihre stets hervorragenden Noten im strahlenden Kontrast zu seinem holpernden Gang durchs Studium, unterwegs zu einem Examen, das er ohne ihre Hilfe niemals bestanden hätte. Sie hatte ihn durch das ganze Studium gelockt, gezerrt und getrieben, als wäre ihr eigener Erfolg mit dieser Bürde leichter zu ertragen gewesen. Aus irgendeinem Grunde – sie hatten ihn nie ermitteln können, vielleicht, weil sie nie darüber sprachen – hatten sie beide das Gefühl gehabt, daß sie ihm dankbar sein müßte und nicht umgekehrt. Dieses Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein, hatte sie später immer geärgert. Warum sie während des gesamten Studiums unzertrennlich gewesen waren, hatte niemand begreifen können. Sie hatten nie etwas miteinander gehabt, höchstens mal eine Runde Knutschen im Suff; sie waren ein ungleiches Freundespaar gewesen, unzertrennlich, streitsüchtig, aber immer voller gegenseitiger Fürsorge, die sie vor den vielen tiefen Fallgruben des Studiums bewahrte.
»Und was deinen Status als Zeugin angeht, auf den scheiß’ ich im Moment, ehrlich gesagt. Das wichtigste ist, daß der Typ endlich die Klappe aufmacht. Mit dem Zeuginnenkram befassen wir uns eingehender, wenn irgendwer das nötig findet. Und das dauert sicher noch lange.«
»Zeuginnenkram.« Sein juristischer Sprachgebrauch war nie sonderlich präzise gewesen, aber Karen Borg konnte das trotzdem nicht so ganz schlucken. Håkon Sand war Polizeiadjutant und offiziell ein Hüter von Gesetz und Ordnung. Karen Borg wollte gern weiterhin glauben, daß die Polizei die Juristerei ernst nahm.
»Kannst du nicht wenigstens mit ihm reden?«
»Unter einer Bedingung. Du lieferst mir eine glaubwürdige Erklärung dafür, daß er weiß, wer ich bin.«
»Das war mein Fehler.«
Håkon Sand lächelte mit der Erleichterung, die er immer empfunden hatte, wenn sie ihm etwas erklären konnte, das er zehnmal gelesen und doch nicht begriffen hatte. Er holte zwei Tassen Kaffee aus dem Vorzimmer.
Und dann erzählte Håkon Sand die Geschichte eines jungen Niederländers, dessen einziger Kontakt mit dem Geschäftsleben – das war zumindest die vorläufige Theorie der Polizei – im Rahmen des europäischen Rauschgifthandels stattgefunden hatte. Aus der Geschichte ging hervor, wieso dieser Niederländer, der derzeit stumm wie ein Fisch in Norwegens ekelhaftestem Loch, der Untersuchungszelle des Osloer Polizeigebäudes, auf Karen Borg wartete, wußte, wer sie war; eine der Allgemeinheit unbekannte, sehr erfolgreiche Anwältin, fünfunddreißig Jahre alt und auf das Geschäftsleben spezialisiert.
»Bravo zwo-null ruft null-eins!«
»Null-eins an Bravo zwo-null, worum geht’s?«
Der Polizist sprach leise, als erwarte er ein in aller Vertraulichkeit erzähltes Geheimnis. Das war jedoch nicht der Fall. Er hatte einfach nur Dienst in der Zentrale. In dem großen Raum mit dem schrägen Boden waren Lautstärke ein Tabu, Entschlossenheit eine Tugend und die Fähigkeit, sich kurz zu fassen, eine Notwendigkeit. Die uniformierten Beamten saßen wie die Hühner auf der Stange vor der Karte ihrer Hauptbühne, Oslo. Der Raum lag so zentral wie möglich im Polizeigebäude, ohne ein einziges Fenster zum unruhigen Samstagabend. Die Hauptstadtnacht drang trotzdem ein, durch die Funkverbindung mit den Streifenwagen und eine wohlwollende 002-Nummer, die Oslos mehr oder minder hilfsbedürftiges Publikum wählen konnte.
»Im Bogstadvei sitzt ein Mann. Er ist nicht ansprechbar, seine Kleider sind blutig, aber er scheint nicht verletzt zu sein. Keine Papiere. Er leistet keinen Widerstand, behindert aber den Verkehr. Wir bringen ihn rüber.«
»Alles klar, Bravo zwo-null. Sagt Bescheid, wenn ihr wieder losfahrt. Null-eins Ende.«
Eine halbe Stunde später wurde der Verhaftete gebracht. Seine Kleider waren wirklich blutgetränkt. Bravo zwo-null hatte die Wahrheit gesagt. Ein junger Polizeianwärter untersuchte den
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