Blinde Seele: Thriller (German Edition)
von ihm kannte, würde die Toxikologie ergeben, dass Mrs. Newton vor ihrem Tod mit einer gefährlich hohen Dosis Diazepam ruhiggestellt worden war. Dieses beinahe geschmacklose Mittel ließ sich leicht in Essen oder Getränke mischen.
Duval kam zu Sam herüber, ein Polaroidfoto in der Hand.
»So wurde sie gefunden«, sagte er. »Von ihrer Schwester, die zum Abendessen vorbeikam. Sie hatte ihren eigenen Schlüssel. Die Schwester hatte Wein mitgebracht. Die beiden wollten sich Essen ins Haus kommen lassen, sich einen Film anschauen und einen gemütlichen Abend machen.«
Auf dem Polaroidfoto trug Amelia Newton eine überdimensionale dunkle Sonnenbrille. »Ihre Schwester ist sich sicher«, erklärte Duval, »dass die Brille nicht Amelia gehört hat.«
»Haben die anderen Opfer auch Sonnenbrillen getragen?«, fragte Sam.
Duval schüttelte den Kopf. »Bei dem Opfer in Orlando war es eine Schlafmaske, in Jupiter eine Mullbinde, mit Heftpflaster festgeklebt. In Naples haben die Hände des Opfers, die in weißen Handschuhen steckten, die Augenhöhlen bedeckt.«
Sam zwang sich, noch einmal auf Amelia Newton zu schauen.
Auf ihr Gesicht.
Ihre Augen.
Oder vielmehr die hässlichen dunklen Höhlen, wo einmal ihre Augen gewesen waren.
Zwei schwarze Löcher, vermutlich von.380er-Geschossen verursacht, wie schon bei den ersten beiden Opfern. Kein großes Kaliber, aber groß genug, um den Zweck zu erfüllen.
Auf einmal wünschte sich Sam, er hätte keine Spareribs gegessen. Er holte tief Luft, nahm die Mischung von Gerüchen im Zimmer wahr, versuchte sie zu trennen – Blut und Tod, der Geruch von verbranntem Schaumstoff und noch etwas anderes, etwas Chemisches, das er nicht einordnen konnte.
»Schöner freier Abend, was?«, sagte Duval leise.
»Ja«, sagte Sam. »Danke, dass ich dabei sein durfte.«
3.
Grace Lucca Becket saß im Flugzeug und nippte an ihrem Martini. Sie dachte an die Tage, die vor ihr lagen. Zwar hätte sie die Reise lieber gemeinsam mit Sam unternommen, aber irgendwie machte es auch so Spaß, mit einem Drink hier zu sitzen und sich auf das Abendessen und eine hoffentlich erholsame Nacht zu freuen.
Grace gab sich ganz dem Gefühl einer angenehmen Trägheit hin.
»Und verdirb dir die Reise bloß nicht mit Schuldgefühlen«, hatte Claudia gestern zu ihr gesagt.
»Nie und nimmer«, hatte Grace ironisch erwidert.
Ihre ganze Familie kannte Grace’ Talent, sich mit Selbstvorwürfen zu plagen. Aber nachdem sie sich auf diese Reise eingelassen hatte, hatte sie auch die Absicht, das Beste daraus zu machen. Ein gutes Hotel ein Stück außerhalb von Zürich, dazu die Konferenz mit Berufskollegen, mit denen sie dasselbe Interesse verband: Kindern zu helfen, die mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten.
Genau das, was sie auch zu Hause als Kinder- und Jugendpsychologin versuchte.
Deshalb wären Reisen in die Schweiz oder woandershin eigentlich nicht nötig gewesen. Grace wäre auch gar nicht nach Zürich geflogen, hätte Magda nicht alles in die Wege geleitet – Dr. Magda Shrike, ihre Kollegin, langjährige Mentorin und geschätzte Freundin, mit der Grace sich seit ungefähr einem Jahr die Arbeitsräume teilte.
Das Thema der Internationalen Konferenz über Kinderentwicklungspsychologie, die vom 10. bis zum 12. Mai stattfinden würde, lautete »Emotionale Erziehung«. Wie konnte man die Kräfte bündeln, um jungen Menschen mit psychischen Problemen auf die bestmögliche Weise zu helfen? Die Vortragsredner waren bereits vor längerer Zeit gebucht worden, aber durch einen plötzlichen Krankheitsfall war eine Lücke im Bereich der Jugendpsychologie entstanden. Eine Bekannte von Magda hatte sie daraufhin gebeten, jemanden vorzuschlagen, der einspringen könnte. Magdas Wahl war auf Grace gefallen.
»Aber es muss doch eine ganze Heerschar geeignetere Leute geben«, hatte Grace gesagt.
»Ich wüsste niemanden, der geeigneter wäre«, hatte ihre Freundin und Kollegin erwidert.
»Das ist sehr schmeichelhaft, aber ich bin mir da nicht so sicher.«
»Aber ich«, sagte Magda überzeugt.
»Das ist nicht zufällig die nächste Stufe deines Therapieplans für mich?«
Magda hatte Grace als ihre eigene Psychologin geholfen, sich von einer Reihe traumatischer Ereignisse zu erholen, insbesondere von ihren Schuldgefühlen nach den Geschehnissen im vergangenen Mai.
Damals hatte Grace einen Mann getötet.
Es war nicht einfach gewesen, das Trauma zu überwinden, aber mit Magdas Hilfe hatte sie es geschafft –
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