Blinde Seele: Thriller (German Edition)
davon abbringen, obwohl ihm schon bei dem Gedanken, auch nur ein bisschen Zeit mit Toni Petit zu verbringen, ein Schauder über den Rücken lief. Aber die mehrfache Mörderin war mit schweren Magenschmerzen in eine Klinik eingeliefert worden und hatte um einen Besuch von Sam gebeten.
Nicht als Detective, sondern als ein Mann, dessen Vertrauen sie missbraucht hatte.
Sie wollte sich entschuldigen.
Er würde hinfahren, entschied er, für sich selbst. Denn auch wenn er nie wirklich an einen »Abschluss« geglaubt hatte, war es noch immer beunruhigend für ihn – als Mann, nicht nur als Detective –, dass er über Jahre hinweg immer wieder Zeit mit diesem Monster verbracht hatte, ohne je zu ahnen, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
*
»Ich bin es nicht, bei dem du dich entschuldigen musst.«
Sams erste Worte an sie, als er hinfuhr, am zweiten Freitag im Juni.
Sie lag in einer geschlossenen Abteilung, mit einem Fußgelenk ans Bett gekettet.
Sie sah krank aus.
Sie wolle Briefe schreiben, sagte sie zu ihm, an die Familien der Opfer.
»Hat dein Anwalt dir das gesagt?«, fragte Sam. »Dass du Reue zeigen sollst?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Ich höre eigentlich nicht auf ihn, aber … nein, hier geht es nicht um das Urteil, Sam. Ich habe einfach das Gefühl, es tun zu müssen.«
»Dann tu es.«
»Aber was, wenn meine Briefe ihre Wunden aufreißen?«
»Meinst du etwa, dass diese Wunden auch nur halbwegs geschlossen sind?« Es tat gut, ein bisschen Wut auszulassen. »Glaubst du vielleicht, es wird auch nur einem von diesen armen Leuten besser gehen, wenn sie einen Brief von dir bekommen?«
»Natürlich nicht. Ich wollte nur versuchen, zum Ausdruck zu bringen …« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt kein Wort, um es zu beschreiben. Reue. Bedauern.« Sie schlug sich mit der rechten Hand an die Brust. »Mea culpa.«
»Bist du katholisch?«
»Ich habe keinen Glauben«, sagte sie. »Deshalb gibt es für mich keine Buße und mit Sicherheit keine Hoffnung auf Vergebung. Der Todestrakt und das Feuer, dorthin werde ich gehen, und ich habe es nicht anders verdient.«
»Was willst du von mir, Toni?«
Er hatte sie unabsichtlich beim Vornamen genannt, deshalb war er nun wütend auf sich, denn in Gedanken war er bei den Opfern, bei Felicia Delgado und bei Billie.
Er wollte nur noch gehen, nur noch weg von hier.
»Ich habe einen ersten Brief geschrieben«, sagte sie. »An Arlene Silvers Familie. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du ihn kurz überfliegen würdest. Dann könnte ich ihn unterschreiben und darum bitten, ihn aufgeben zu lassen.«
»Du solltest besser deinen Anwalt darum bitten«, sagte Sam.
»Ich vertraue dir mehr als irgendeinem Anwalt, Sam.«
Er bemerkte das Blatt Papier links von ihr.
»Bitte.« Sie nahm es in die Hand, hielt es ihm hin.
»Ich werde den Brief nicht lesen«, sagte Sam. »Du hast ihn geschrieben, dann unterzeichne ihn auch, lass ihn aufgeben oder wirf ihn in den Müll. Mir ist es egal.«
Er erhob sich.
» Bitte , Sam.« Ihre Stimme wurde noch flehentlicher. »Gib mir wenigstens deinen Stift, damit ich den Brief unterschreiben kann. Dann habe ich zumindest einen Anfang gemacht.«
Sam reagierte aus Ungeduld, endlich mit ihr fertig zu werden.
Er zückte einen Stift. Einen ganz gewöhnlichen Bic-Kugelschreiber.
Er reichte ihn ihr.
»Danke.« Sie nahm ihn entgegen.
Und dann drehte sie ihn um und stach sich die Spitze tief ins linke Auge.
»O Gott!«, rief Sam entsetzt, als Blut und Augenflüssigkeit spritzten.
Toni Petit kreischte auf. Sam versuchte ihr den Stift zu entreißen, aber sie hielt ihn fest. Ihre Finger waren unglaublich kräftig. Zwei Wachleute rannten auf sie zu, aber Sam wusste, dass Toni es noch einmal tun würde, und das konnte, würde er nicht zulassen.
»Nein!« , schrie sie, verrenkte den Arm und bohrte ihm den Stift seitlich in den Hals.
»Verdammt!«, brüllte er und sprang mit einem Satz zurück.
Die Wachleute waren jetzt bei ihr und hatten sie überwältigt. Sam riss sich den Stift heraus, obwohl er im selben Augenblick wusste, dass er genau das Falsche tat. Aber auch wenn Blut floss, war es wenigstens kein arterielles Blut. Er war sich nicht sicher, ob er wütender auf Toni oder auf sich selbst sein sollte, weil er hierhergekommen und so töricht gewesen war, ihr den verdammten Stift zu geben.
»Mein Auge für ihr Auge«, schrie Toni Petit. »Warum musstest du mich aufhalten?«
»O Gott«, sagte Sam noch einmal, während eine Schwester ihn in
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