Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
unbedingt genauer, nur weil sie teuer war«, sagte mein Cousin, wie um sich selbst davon zu überzeugen. »Ich hatte mal eine ziemlich teure Uhr, aber sie ging ständig vor oder nach. Die habe ich bekommen, als ich auf die Mittelschule kam, aber nach einem Jahr hab ich sie verloren. Seitdem komme ich ohne Uhr aus. Sie kaufen mir keine mehr.«
    »Ist das nicht unpraktisch, ohne Uhr?«, fragte ich.
    »Was?«, fragte mein Cousin.
    » Ob das nicht unpraktisch ist, so ohne Uhr? «, wiederholte ich und sah ihn dabei an.
    »Eigentlich nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich wohne ja nicht allein irgendwo in den Bergen. Es gibt immer jemanden, den ich nach der Uhrzeit fragen kann.«
    »Stimmt auch wieder«, sagte ich.
    Für eine Weile schwiegen wir.
    Mir war klar, dass ich nett zu ihm sein und mit ihm plaudern sollte, um ihn ein bisschen aufzulockern, bevor wir im Krankenhaus ankamen. Aber ich hatte ihn vor fünf Jahren zum letzten Mal gesehen; in diesen fünf Jahren war aus einem Neunjährigen ein Vierzehnjähriger geworden, und ich war nun nicht mehr zwanzig, sondern fünfundzwanzig. Diese Zeitspanne hatte so etwas wie eine unsichtbare Barriere zwischen uns errichtet, die schwer zu überwinden war. Selbst wenn ich versuchte, etwas Notwendiges zu sagen, kamen mir die richtigen Worte nicht über die Lippen. Und jedes Mal, wenn ich dazu ansetzte, etwas zu sagen, und es dann doch wieder verschluckte, sah mein Cousin ein wenig verstört zu mir auf, das linke Ohr kaum merklich in meine Richtung geneigt.
    »Wie spät ist es jetzt?«, fragte er.
    »Zehn Uhr neunundzwanzig«, antwortete ich.
    Als der Bus endlich in Sicht kam, war es zehn Uhr zweiunddreißig.

    Der Bus war moderner als der, mit dem ich früher zur Oberschule gefahren war. Die Windschutzscheibe war viel größer, und das ganze Fahrzeug sah aus wie ein riesiger Bomber, nur ohne Tragflächen. Und er war voller, als ich erwartet hatte. Zwar standen keine Fahrgäste im Gang, aber wir konnten nicht nebeneinander sitzen, und da wir bald wieder aussteigen würden, blieben wir an der Tür ganz hinten stehen. Aber es war mir ein Rätsel, warum um diese Tageszeit so viele Leute unterwegs waren. Die Busroute begann am Bahnhof, führte dann durch eine am Hang gelegene Wohngegend und wieder zurück zum Bahnhof; keinerlei Sehenswürdigkeiten lagen an der Strecke. Wegen einiger Schulen waren die Busse voll, wenn Schüler unterwegs waren, aber um die Mittagszeit hätte der Bus eigentlich leer sein müssen.
    Mein Cousin und ich hielten uns an den Schlaufen und Stangen fest. Der Bus war funkelnagelneu, wie gerade aus der Fabrik gekommen, und die Metallflächen waren so blank, dass man sich darin spiegeln konnte. Die Polstersitze waren flauschig, und bis zur letzten Schraube kündete alles von jenem stolzen Optimismus, der nur von ganz neuen Maschinen ausgeht.
    Dass der Bus so neu war und so unerwartet voll, brachte mich ganz aus der Fassung. Vielleicht hatte die Route sich geändert, seit ich hier zuletzt im Bus unterwegs gewesen war? Ich sah mich aufmerksam um und schaute durchs Fenster, aber wir fuhren durch dieselbe ruhige Wohngegend, die ich von früher kannte.
    »Das ist doch der richtige Bus, oder?«, erkundigte sich mein Cousin besorgt. Anscheinend hatte ich, seit wir in den Bus gestiegen waren, bestürzt dreingeblickt.
    »Keine Sorge«, sagte ich, auch um mich zu beruhigen. »Es gibt hier keine andere Buslinie, also muss es der richtige sein.«
    »Du bist doch früher hier mit dem Bus zur Schule gefahren, nicht?«, fragte mein Cousin.
    »Genau.«
    »Bist du gern zur Schule gegangen?«
    »Nicht besonders gern«, sagte ich aufrichtig. »Aber ich hatte dort meine Freunde, und die Fahrt war nicht sehr weit.«
    Mein Cousin dachte über das nach, was ich gesagt hatte.
    »Triffst du dich noch mit ihnen?«
    »Nein, ich habe sie schon ewig lange nicht mehr gesehen.« Ich wählte meine Worte mit Bedacht.
    »Warum denn nicht?«
    »Weil sie so weit weg wohnen.« Das war nicht der Grund, aber eine andere Erklärung fiel mir nicht ein.
    In meiner Nähe saß eine Gruppe älterer Leute. Es dürften etwa fünfzehn gewesen sein, und wegen ihnen, so wurde mir auf einmal klar, war der Bus so voll. Alle waren sie braun gebrannt, sogar im Nacken, und ausnahmslos waren sie schlank. Die meisten Männer trugen warme Hemden wie zum Bergsteigen, und die Frauen schmucklose, schlichte Blusen. Alle hatten kleine Rucksäcke auf dem Schoß, wie man sie für kurze Bergwanderungen trägt. Es war

Weitere Kostenlose Bücher