Blinde Weide, Schlafende Frau
recht überlege, finde ich allerdings alle Geschichten, die ich schreibe, mehr oder weniger seltsam.
»Krebse«, »Die Geschichte mit der armen Tante«, »Das Jagdmesser« und »Blinde Weide, schlafende Frau« wurden vor der Übersetzung stark überarbeitet; die hier vorliegenden Fassungen weichen somit deutlich von den ersten, in Japan erschienenen ab. Auch in einigen der älteren Geschichten bin ich auf Stellen gestoßen, mit denen ich nicht zufrieden war, und ich habe kleinere Änderungen daran vorgenommen.
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich meine Kurzgeschichten häufig umgeschrieben und in Romane eingearbeitet habe. Auch die vorliegende Sammlung enthält einige dieser Prototypen. »Glühwürmchen« und »Menschenfressende Katzen« habe ich mit einigen Änderungen in die Romane Naokos Lächeln und Sputnik Sweetheart aufgenommen. Mitunter haben sich Texte, die ich als Kurzgeschichten geschrieben hatte, nach ihrer Veröffentlichung in meinem Kopf ausgedehnt und zu Romanen entwickelt. So konnte eine von ihnen, die ich vor längerer Zeit geschrieben hatte, mitten in der Nacht in mein Haus eindringen, mich wachrütteln und schreien: »He, jetzt wird nicht geschlafen! Du kannst mich nicht einfach vergessen, an mir ist noch mehr dran!« Genötigt von dieser Stimme schrieb ich dann einen Roman. Auf diese Weise greifen Kurzgeschichten und Romane bei mir auf natürliche, organische Weise ineinander.
Viele Menschen haben mich ermutigt, diese Kurzgeschichten zu schreiben: Amanda Urban, meine Agentin bei ICM, Gary Fisketjon bei Knopf und Lektor der amerikanischen Ausgabe der vorliegenden Sammlung; meine fleißigen und fähigen Übersetzer Jay Rubin und Philip Gabriel, jeder mit einem einmaligen Stil. Es hat mir großes Vergnügen bereitet, meine Geschichten in ihrer hervorragenden Übersetzung wiederzulesen. Sehr inspiriert haben mich auch die Literaturredakteurinnen Deborah Treisman und ihre Vorgängerin Linda Asher der Zeitschrift The New Yorker , in der zahlreiche meiner Geschichten erschienen sind.
Ihnen allen ist es zu verdanken, dass diese neue Sammlung von Kurzgeschichten nun publiziert ist, und ich könnte – als Kurzgeschichtenschreiber – mit dem Ergebnis, das wir erzielt haben, nicht glücklicher sein.
H. M.
Blinde Weide, schlafende Frau
Als ich die Augen schloss, traf mich der Duft des Windes. Ein Maiwind, üppig wie eine Frucht, mit rauer Schale, weichem Fruchtfleisch und zahllosen Samenkörnchen. Das Fruchtfleisch barst in der Luft, die Samen prasselten wie milder Schrot auf meine bloßen Arme und hinterließen einen Anflug von Schmerz.
»Wie spät ist es?«, fragte mich mein Cousin. Er war etwa zwanzig Zentimeter kleiner als ich und musste zu mir aufschauen, wenn er mit mir sprach.
Ich sah auf die Uhr. »Zwanzig nach zehn.«
»Geht deine Uhr richtig?«, fragte er.
»Ich glaube schon.«
Er ergriff mein Handgelenk und schaute auf die Uhr. Seine schlanken glatten Finger waren erstaunlich stark. »War die teuer?«
»Nein, ziemlich billig«, sagte ich und warf erneut einen Blick auf den Fahrplan.
Keine Antwort.
Als ich meinen Cousin ansah, schaute er verlegen zu mir auf. Die weißen Zähne in seinem geöffneten Mund wirkten wie verkümmerte Knochen.
» Sie war ganz billig «, sagte ich noch einmal sehr deutlich und sah ihm dabei ins Gesicht. » Es ist eine billige Uhr, aber sie geht genau. «
Mein Cousin nickte wortlos.
Mein Cousin hört auf dem rechten Ohr nicht gut. Gleich als er in die Schule kam, wurde er von einem Baseball am Ohr getroffen, und seitdem ist sein Gehör geschädigt, aber normalerweise beeinträchtigt ihn das nicht. Er geht auf eine normale Schule und führt ein vollkommen normales Leben. Im Klassenzimmer sitzt er immer ganz rechts in der ersten Reihe, damit er das linke Ohr dem Lehrer zuwenden kann. Seine Noten sind gar nicht übel. Allerdings gibt es Zeiten, in denen er Geräusche relativ gut hört, und Zeiten, in denen das nicht so ist. Sie wechseln wie Ebbe und Flut. Und sehr selten, zweimal im Jahr vielleicht, hört er mit beiden Ohren so gut wie nichts mehr. Es ist, als würde die Stille in seinem rechten Ohr so tief, dass sie für das linke jedes Geräusch verschluckt. Dann kann er natürlich kein normales Leben mehr führen und muss für eine Weile der Schule fern bleiben. Auch die Ärzte können sich nicht erklären, warum das auftritt. Sie haben einen solchen Fall noch nie erlebt, also können sie nichts dagegen unternehmen.
»Eine Uhr geht nicht
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