Blinde Weide, Schlafende Frau
meinen Fehlern (also den Geschichten, die ich nicht als gelungen betrachte) und wende das Gelernte beim nächsten Versuch an. Ich bemühe mich sehr, dasjenige, was ich beim Schreiben von Kurzgeschichten gelernt habe, in meinen Romanen umzusetzen. In diesem Sinne ist die Kurzgeschichte für mich als Romancier gleichsam ein Versuchslabor. Es ist schwer, im Rahmen eines Romans so zu experimentieren, wie ich es gern möchte; daher fände ich es ohne meine Kurzgeschichten noch schwieriger und strapaziöser, Romane zu schreiben.
Im Wesentlichen verstehe ich mich als Romancier; viele Leute sagen mir jedoch, sie zögen meine Kurzgeschichten meinen Romanen vor. Das stört mich nicht, und ich versuche auch nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Eigentlich freue ich mich sogar darüber. Meine Kurzgeschichten sind wie weiche Schatten, die ich in die Welt gesetzt, wie schwache Fußspuren, die ich hinterlassen habe. Ich weiß noch genau, wo ich jede einzelne niedergeschrieben und wie ich mich dabei gefühlt habe. Die Kurzgeschichten sind wie Wegweiser zu meinem Herzen, und als Autor macht es mich glücklich, meinen Lesern diese intimen Empfindungen übermitteln zu können.
Der Elefant verschwindet , die erste Sammlung von Kurzgeschichten, die ins Deutsche und viele andere Sprachen übersetzt wurde, erschien 1993. Der Band Nach dem Beben kam 2003 auf Deutsch (2000 in Japan) heraus und enthält sechs kürzere Erzählungen, die alle auf die eine oder andere Weise mit dem Erdbeben von Kobe 1995 zu tun haben. Ich habe sie in der Hoffnung geschrieben, dass alle sechs Geschichten sich im Kopf des Lesers zu einem Gesamtbild zusammenfügen würden. Folglich handelt es sich da eher um ein Konzeptalbum als um eine Kurzgeschichtensammlung. So betrachtet, ist der vorliegende Band Blinde Weide, schlafende Frau die erste echte Kurzgeschichtensammlung, die ich seit längerer Zeit im Ausland herausbringe.
Darin enthalten sind natürlich viele Geschichten, die ich nach 1993, als Der Elefant verschwindet erschien, geschrieben habe. Dazu gehören »Birthday Girl«, »Menschenfressende Katzen«, »Der siebte Mann« und »Der Eismann«.
»Birthday Girl« schrieb ich auf Wunsch des Lektors, als ich eine Anthologie von Geschichten anderer Autoren zum Thema Geburtstag zusammenstellte. Es ist praktisch, mit der Zusammenstellung einer Anthologie einen Schriftsteller zu beauftragen – falls noch ein Text fehlt, kann er ihn rasch selbst schreiben.
»Der Eismann« basiert übrigens auf einem Traum, den meine Frau hatte; »Der siebte Mann« beruht auf einer Idee, die mir beim Surfen und beim Hinausschauen auf die Wellen kam.
Um der Wahrheit willen muss ich jedoch sagen, dass ich von Anfang 1990 bis Anfang 2000 nur sehr wenige Kurzgeschichten geschrieben habe; was jedoch nicht daran lag, dass es mich nicht mehr interessierte, welche zu schreiben. Ich war nur so sehr mit mehreren Romanen beschäftigt, dass mir die Zeit fehlte, auf das andere Geleis zu wechseln. Ich schrieb zwar die eine oder andere Kurzgeschichte, aber sie standen für mich nicht im Mittelpunkt. Stattdessen verfasste ich die Romane Mister Aufziehvogel , Gefährliche Geliebte, Sputnik Sweetheart und Kafka am Strand . Und zwischendurch schrieb ich die beiden Sachbücher zum Anschlag der Aum-Sekte, aus denen die deutsche Fassung Untergrundkrieg entstanden ist. Jedes dieser Bücher erforderte ein enormes Maß an Zeit und Energie. Damals waren wohl die Romane mein wichtigstes Schlachtfeld. Zwischendurch ergab sich als eine Art Intermezzo Nach dem Beben , ein Band, der, wie gesagt, nicht eigentlich eine Kurzgeschichtensammlung ist.
Doch 2005 erfasste mich zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder einmal das starke Bedürfnis, Kurzgeschichten zu schreiben. Ich könnte fast sagen, ein mächtiger Drang ergriff von mir Besitz. Also setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb etwa eine Geschichte in der Woche; so stellte ich fünf in kaum mehr als einem Monat fertig. Offen gesagt, ich dachte an nichts anderes mehr als an diese Geschichten und schrieb sie fast ohne Unterbrechung nieder. Diese fünf (in Japan unter dem Titel »Fünf seltsame Geschichten aus Tokyo« erschienen) bilden den Abschluss des vorliegendes Bandes. Wie schon der Titel sagt, haben sie eine Gemeinsamkeit: Es sind seltsame Geschichten. Obwohl ihnen dieses Thema gemeinsam ist, können sie unabhängig voneinander gelesen werden und bilden keine klar umrissene Einheit wie die Geschichten in Nach dem Beben . Wenn ich es mir
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