Blood Shot
anderen Nachbarn, die meine Eltern gekannt hatten, zum letzten Mal unterhalten. Sie trauerten wirklich um meinen sanftmütigen, stets gutgelaunten Vater; Gabriella, meiner Mutter, die damals schon zehn Jahre tot war, zollten sie widerwillig Respekt. Schließlich hatte sie wie alle Frauen der Nachbarschaft jeden Pfennig sparen und zweimal umdrehen müssen; es war nicht leicht gewesen, jeden Tag etwas zum Essen auf den Tisch zu bringen. Als sie tot war, beschönigten sie ihr exzentrisches Verhalten, über das sie immer den Kopf geschüttelt hatten - daß sie mit mir in die Oper gegangen war, statt mir für die zehn Dollar einen neuen Wintermantel zu kaufen. Daß sie mich nicht hatte taufen lassen und mich nicht zu den Schwestern von St. Wenzeslaus in die Schule gab. Letzteres beunruhigte sie so sehr, daß eines Tages die Schwester Oberin, Mutter Joseph Irgendwas, bei uns hereinschneite. Es kam zu einer denkwürdigen Auseinandersetzung.
Die größte Narrheit bestand in ihren Augen vermutlich darin, daß sie darauf bestand, mich aufs College zu schicken, und es mußte auch noch die Universität von Chicago sein. Nur das Beste war gut genug für Gabriella, und als ich zwei war, hatte sie beschlossen, daß eben die Universität von Chicago das Beste war. Nach ihren Maßstäben vielleicht nicht ganz so gut wie die Universität von Pisa, ebensowenig wie die Schuhe, die sie bei Callabrano in der Morgan Street kaufte, sich mit Schuhen aus Mailand vergleichen ließen. Aber man tat, was man konnte. Also ging ich zwei Jahre nach ihrem Tod auf die - wie sie meine Nachbarn nannten - Rote Universität, halb ängstlich, halb neugierig, um mich den bösen Geistern dort zu stellen. Seitdem war ich nie mehr wirklich nach Hause zurückgekehrt.
Louisa Djiak war die einzige Frau in der Nachbarschaft gewesen, die zu Gabriella - ob tot oder lebendig - gestanden hatte. Aber sie hatte Gabriella für sich vereinnahmt. Und mich auch, dachte ich mit einer Spur Bitterkeit, die mich selbst wunderte. Mir wurde klar, daß ich mich noch immer über die vielen verlorenen Sommertage ärgerte, an denen ich Babysitter spielen mußte; zu oft hatte ich meine Hausaufgaben zum Gebrüll von Caroline machen müssen.
Das Baby war zwar mittlerweile erwachsen, aber es plärrte mir noch immer unerbittlich die Ohren voll. Ich kam hinter Carolines Capri zum Stehen und schaltete den Motor aus. Das Haus war kleiner und vor allem schäbiger, als ich es in Erinnerung hatte. Louisa war zu krank, um zweimal im Jahr die Vorhänge zu waschen und zu stärken, und Caroline gehörte einer Generation an, die solche Arbeiten tunlichst vermied. Ich mußte es wissen, gehörte ich doch auch zu dieser Generation.
Sie wartete an der Haustür auf mich. Noch immer nervös, lächelte sie kurz und angespannt. »Ma ist schon ganz aufgeregt. Sie hat bis jetzt auf ihren Kaffee verzichtet, weil sie ihn unbedingt mit dir trinken will.«
Sie führte mich durch das kleine, vollgestopfte Eßzimmer in die Küche und sagte dabei über die Schulter: »Eigentlich sollte sie überhaupt keinen Kaffee mehr trinken. Aber das wäre bei all dem, was sie sonst nicht mehr darf, zuviel verlangt, und wir haben uns auf eine Tasse pro Tag geeinigt.«
Sie machte sich mit energiegeladener Ineffizienz am Herd zu schaffen, und obwohl sie Wasser und Kaffeepulver verschüttete, gelang es ihr, Tasse, Stoffserviette und eine einzelne Geranie liebevoll auf einem Tablett zu arrangieren. Als letztes stellte sie noch ein Schüsselchen Eis mit einem Geranienblatt garniert dazu. Als sie das Tablett aufnahm, folgte ich ihr in Louisas Schlafzimmer. Der Geruch nach Medikamenten und Krankheit, der Gabriella in ihrem letzten Lebensjahr immer umgeben hatte, schlug mir wie eine Faust ins Gesicht. Ich riß mich zusammen und zwang mich, weiter in das Zimmer hineinzugehen.
Trotz Carolines Warnungen war ich schockiert. Louisa saß an Kissen gelehnt im Bett, ihr ausgezehrtes Gesicht war seltsam grüngrau verfärbt, das Haar dünn und strähnig. Die steifen Hände ragten aus den weiten Ärmeln einer abgetragenen rosa Strickjacke. Aber als sie sie mir lächelnd entgegenstreckte, konnte man noch etwas von der Schönheit der jungen Frau ahnen, die das Nachbarhaus gemietet hatte, als sie mit Caroline schwanger war.
»Ich freu' mich, dich zu sehen, Victoria. Ich wußte, du würdest kommen. In der Beziehung bist du wie deine Mutter. Du siehst ihr sogar ähnlich, obwohl du die grauen Augen deines Vaters hast.«
Ich kniete mich neben das
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