BLUFF!
echte Herzenswünsche hegt.« Niemand also sollte sich durch die zahllosen Schein-Welten davon abbringen lassen, existenziell zu leben, das heißt, im Angesicht des unvermeidlichen Todes und im Bewusstsein der Unwiederholbarkeit jedes Moments und jeder Person zu lieben, zu glauben und sich ergreifen zu lassen von Schönheit, die eine Ahnung von Ewigkeit ist.
Das gilt schon für einen prachtvoll schönen Herbstabend, den man sich nicht von Meteorologen, wackeren Bewohnern der Wissenschaftswelt, schlechtreden lassen sollte, die neulich behaupteten: »Das vermeintlich schöne Herbstwetter ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Dürreperiode.«
Aber Existenziellem begegnen wir vor allem bei Menschen. Als Marcel Reich-Ranicki am 27. Januar 2012 im Deutschen Bundestag seine berührende Rede über die erschütternden Erfahrungen im Warschauer Ghetto beendete, trat Schweigen ein. Niemand applaudierte, denn da hatte jemand nicht für Beifall geredet. Da hatte sich etwas ereignet, und man war dabei gewesen. Die Abgeordneten erhoben sich. Und erst nach einer gewissen Zeit begannen sie zögernd zu klatschen.
Auch in der Kunst ereignet sich Existenzielles. Echte Kunst kann uns herausreißen aus dem Alltagstrott und unseren Blick wieder auf Wesentliches lenken. Und echte Kunst ist nicht künstlich, sondern im Gegenteil, echte Kunst ist wahr, und echte Künstler schaffen ihre Kunst nicht bloß eigennützig, sondern um andere Menschen auf Existenzielles zu verweisen. So können uns Dostojewskijs »Brüder Karamasow« für die Wahrnehmung von Gut und Böse öffnen, ein Liebesfilm regt unsere eigenen Emotionen an, und eine Melodie im Radio lässt uns vielleicht Gott ahnen.
»Unsere Welt ist pervers, das Leben ist zerbrechlich«, sagt der zynische Regisseur in der »Truman-Show«. Dabei ist es in Wirklichkeit umgekehrt: Wenn man das Leben existenziell lebt und erlebt, wenn man die Zeit seines Lebens nicht vertreibt oder totschlägt, sondern füllt, dann kann das Leben schön sein, trotz allen Leids, und jenseits seiner Kulissen Ahnungen von Ewigkeit offenbaren, Ahnungen von etwas, das bleibt. Als Truman Burbank durch die Ausgangstür geht, hört man Mozart, den türkischen Marsch.
Stellen Sie sich vor, liebe Leserinnen und Leser, Sie wachen auf und sind plötzlich ganz in Ihrer existenziellen Welt. Sie erleben Menschen, die Sie um ihrer selbst willen liebenswürdig finden und die ihrerseits Sie um Ihrer selbst willen liebenswürdig finden. Sie erleben wirklich gute Menschen, die uneigennützig handeln, oder auch Verbrecher, die ungeschminkt das Böse tun, und Sie erleben manches Wirre und Unausgegorene, aber auch einen wirklichen Sinn im Ganzen der Welt, in der Sie wirklich leben, der nicht weggeschwätzt wird durch läppische Theorien, sondern den Sie sehen in jeder echten Zärtlichkeit zwischen Menschen, in jeder Tätigkeit einer Ameise, in jeder Schönheit einer Orchideenblüte. Es ist eine Welt wohl mit größeren Kontrasten zwischen Sinn und Unsinn, Schönheit und Hässlichkeit, Gut und Böse, aber es ist die reale Welt, die wirkliche Welt von uns allen, die Heimat, in die wir als Kinder hineingeboren wurden, die wir betasteten, sahen, hörten, rochen und schmeckten, die Heimat, die uns dann durch all die vielen gefälschten Welten, die sich uns aufdrängten, zeitweilig entglitt, aber in die wir, wenn wir nur wollen, wenigstens für Momente oder sogar dauerhaft zurückkehren können, wenn wir unseren existenziellen Erfahrungen wieder trauen.
Es kann der Anblick eines anrührenden Menschen sein, der uns aufwachen lässt, das tröstende Wort, die anmutige Geste, es kann das Rauschen von hohen Pappeln sein, die sich langsam im Wind wiegen, oder der Flug eines Kranichs, und es kann Musik sein, vielleicht »Air« von Johann Sebastian Bach.
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Über Manfred Lütz
Manfred Lütz, (*1954) studierte in Bonn und Rom Medizin, Philosophie und Theologie. Er ist Psychiater, Psychotherapeut, Diplomtheologe und seit 1997 Chefarzt eines großen psychiatrischen Krankenhauses in Köln. Er schrieb mehrere Bestseller: 1999 erschien »Der Blockierte Riese – Psycho-Analyse der katholischen Kirche«, 2002 »Lebenslust – Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitnesskult«, 2007 »Gott – eine kleine Geschichte des Größten«, für das er den internationalen Corine-Literaturpreis erhielt. Mit »Irre! – Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde« führte er 2009
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