Menschenherz - Band 1-3
Engelsversuchung
Ich beendete den letzten Satz und stand auf, um zum Fenster zu gehen.
Ich war unzufrieden. Beinahe mehr als zuvor. Und das Ende der Geschichte las sich nicht nur schrecklich sondern war auch ansonsten eine Katastrophe.
„ So ist sie, die bittere Realität!“ , jammerte meine innere Stimme. „Und immer noch kein Ende in Sicht!“
Die Welt jenseits meiner kleinen Wohnung sah noch genauso aus, wie zuvor, bevor ich mich an den Computer gesetzt habe und meine Vergangenheit aufschrieb.
Nichts hatte sich durch meine Worte, meine Geschichte verändert. Die Welt drehte sich wie gestern und wie vor Tausenden von Jahren.
„ Und ich klinge wie die alte unzufriedene Frau, die ich in Wirklichkeit bin“ , dachte ich betrübt, obwohl das Fensterglas wie eh und je mein unschuldiges, perfektes Puppengesicht widerspiegelte.
Ich hatte mir so sehr eine Veränderung herbeigewünscht, dass ich nicht wusste, was ich nun tun würde – nun, da nichts eingetreten oder geschehen war. Nichts von dem was ich erhofft oder befürchtet hatte.
„ Was habe ich erwartet?“, fragte ich mich selber und legte meine Stirn gegen die kühle Glasscheibe.
„ Habe ich Vergebung erwartet? Habe ich erwartet, dass Jahve kommt und einschreitet, weil niemand die Wahrheit erfahren soll? Oder habe ich gehofft, dass Samiel nach all den Jahrhunderten endlich zurückkommt?“
Ich weiß, dass ich am Anfang behauptet habe, ich schriebe diese Geschichte, weil ich es nicht ertrage, unerkannt unter den Menschen zu leben. Aber es ist nicht wahr. Ich ertrage es nicht, allein zu sein. Ohne Hoffnung, ohne Ziel.
„ Das ist kein gutes Ende für ein Buch, nicht wahr?“, lachte eine melodische Stimme hinter mir.
„ Gabriel!“ wie ein elektrischer Schlag traf mich die Erkenntnis, dass er schon eine ganze Weile hinter mir gestanden haben muss. Lange genug, um den Schluss meines Manuskriptes zu überfliegen.
„ Ein wenig sehr melodramatisch und verzweifelt, findest du nicht auch?“, fragte er mit dem Anflug eines Lächelns aber seine Augen verrieten seine Trauer.
Er kam näher und strich mir mit dem Handrücken über die Wange. „Bist du wirklich so einsam, dass dieses Buch nötig ist?“
Der Blick seiner Augen schien meine Seele ausloten zu wollen. Wütend und irritiert hielt ich ihm stand, bis er wegsah.
„ Ich bitte dich, es nicht zu veröffentlichen!“
Wieder sah er mich an und der flehende Zug in seinem Gesicht erschreckte mich.
„ Du wirst damit nur neue Konflikte heraufbeschwören. Du gibst den Menschen keine Hilfe und keine Antworten!“
„ Ich will den Menschen keine Hilfe und keine Antworten geben!“, wandte ich ein. „Ich will, dass sie die wahre Geschichte kennen. Und ihnen so die Chance geben, selber Antworten zu finden.“
„ Und ich will ein wenig Mitleid und Verständnis. – Ist das wirklich zu viel verlangt?!“, knurrte meine innere Stimme und legte einen weniger noblen Grund für meine Öffentlichkeitsarbeit frei.
„ Du hilfst niemandem auf diese Weise. – Und schon gar nicht dir selber!“ Zärtlich strich Gabriel mir über den bloßen Oberarm. „Erinnere dich an dein altes Evangelium“, mahnte er leise und zog mich in seine Arme.
Ich erwiderte nichts, sondern überließ mich seiner freundschaftlichen Zärtlichkeit.
„ Sie haben es gefunden!“, murmelte er leise in mein Haar.
Verwirrt sah ich ihn an. „Wer hat was gefunden?“
Tadelnd schob er mich auf Armlänge von sich und hielt mich strafend an den Schultern fest. „Oh Lilith, du hörst schon wieder nicht zu! Dein altes Evangelium, es ist im Besitz der Kirche.“
„ Ja und? Jahrhunderte lang hat es niemanden interessiert, dass ich existiere oder dass es ein Lilith-Evangelium gab.“
„ Lilith!“ Er schüttelte mich beharrlich. „Weißt du überhaupt noch, was drinsteht?“
Ich schob seine Hände von den Schultern und musterte ihn, während ich mich versuchte, an die Details zu erinnern.
„ Du bist sehr wütend gewesen, weißt du noch?“ Er grinste in Richtung des Manuskripts, da es ihn anscheinend an das Evangelium erinnerte. „Du hast die Schöpfung verflucht, und Jesus.“ Meine innere Stimme war versucht, sich aus der Diskussion auszuklinken, denn im Grunde verfluchte ich täglich „diese Jesus-Sache“.
Gabriel erkannte, dass ich seine Aufregung nicht verstand. „Ihre Knochen, Lilith!“
Angestrengt versuchte ich den Faden dieses Gespräches wiederzufinden, da ich in Gedanken bei Jesus und der Kreuzigung hängengeblieben
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