Blut Licht
und mit Steinen gegen eine unsichtbare Wand werfen? Oder reicht es, wenn ich das himmlische Telefon benutze und eine Kirche aufsuche?“
Übermittele Michael deine Wünsche , hallte es durch meine Gedanken und noch einmal fühlte ich diese alles durchdringende Wärme. Dann entschwand der Boden unter meinen Füßen. Für einen Augenblick verlor ich die Orientierung. Ich trudelte durch luftleeren Raum und machte in einiger Entfernung drei weitere Gestalten aus, denen es ähnlich zu ergehen schien. Plötzlich bekam ich mein Gleichgewicht zurück und landete etwas unsanft wieder auf festem Grund. Verblüfft sah ich mich um. Marmorfußboden, Eingangshalle? Dann hörte ich Ernestine überrascht rufen: „Oh mein Gott! Duncan, Steven, kommt schnell. Sie sind zurück!“
Epilog
N un sitze ich hier. In Darians Büro. Wieder einmal. Wie an fast jedem dieser verdammt einsamen Tage, seit er vor knapp vier Monaten von uns ging.
Ich sitze an seinem Schreibtisch. Ich sehe, was er stets sah, während er hier saß. Das Telefon rechts, die Stiftablage in der Mitte und der Laptop links davon. Ein paar unbeantwortete Kondolenzschreiben liegen auf einem Stapel seitlich von mir. Mein Blick streift sie, doch ich habe bislang nicht die Kraft gefunden, mich darum zu kümmern. Immer noch nicht. Vermutlich sollte ich es ganz bleibenlassen. Es macht inzwischen kaum mehr Sinn. Die meisten dieser Schreiben hat ohnehin Jason in meinem Namen erledigt. Er ist eine große Stütze für mich, ohne ihn wäre ich höchstwahrscheinlich verloren.
Für einen Moment zieht ein fröhliches Lachen meine Aufmerksamkeit zum Fenster. Ich erblicke Lilianna, wie sie von Ernestine verfolgt auf ihren Beinchen wackelig durch den hohen Schnee im Garten läuft, um sich hinter einer entlaubten Rosenhecke zu verstecken. Ihr pinkfarbener Schneeoverall lässt sie aufleuchten wie ein Knallbonbon, doch Ernestine tut, als würde sie das Kind nicht finden. Lilianna. Unsere kleine und doch schon so große Tochter. In Kürze wird sie ein Jahr alt. Erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht. Weihnachten steht ebenfalls vor der Tür, nur noch wenige Wochen bis dahin. Dann wird der Verlust wieder zuschlagen wie ein Profiboxer. Ich habe bisher kein einziges Geschenk besorgt. Mir ist einfach nicht danach. Wenn ich ehrlich bin, habe ich sehr große Angst vor diesen Feiertagen. Am liebsten würde ich mich irgendwo einigeln und darauf warten, dass sie vorübergehen. Doch daraus wird nichts werden. Mein Bruder hat sich angesagt. Er wird schon Mitte Dezember herkommen, um bis Ende Januar zu bleiben. Kimberly wird um die Weihnachtstage hereinschneien. Und Kahina? Hm, sie hat sich seit ihrer Rückkehr in den Irak nicht mehr bei mir gemeldet, aber ich weiß, dass sie engen Kontakt zu meinem Bruder hat. Vielleicht sollte ich ihr eine Einladung zu Weihnachten schicken. Auf eine Person mehr im Haus kommt es nicht weiter an, es stehen ausreichend Zimmer zur Verfügung. Eileen freut sich immer über Gäste, dann ist ihr nicht so langweilig. Sie hat die Verjüngung ihres Mannes gut verkraftet. So gut, dass ich sie ihn öfter anflirten sehe. Ich lächele in mich hinein. Zumindest darin hat Darians Dahinscheiden etwas Gutes bewirkt.
Eigentlich kann ich mich über Gesellschaft nicht beklagen. Dad und Ernestine sind komplett zu mir gezogen. Sie wollen mich in meiner Trauer nicht alleinlassen. Ich glaube eher, Dad befürchtet, dass ich einer Kurzschlussreaktion erliege und eine Dummheit begehe. Ganz sicher tue ich das nicht. Wie könnte ich, wenn draußen ein kleines Mädchen mit glockenhellem Lachen und goldblonden Haaren durch den Schnee stapft?
Ich sehe, wie sie kopfüber in eine hohe Schneewehe fällt und dabei laut lacht. Mein Vater eilt herbei und fischt sie am Gürtel aus dem Schnee. Als sie ihm zum Dank die Mütze vom Kopf zieht und sich das übergroße Strickwerk selbst aufsetzt, huscht ein wehmütiges Lächeln über meine Lippen. Dann benetzen Tränen meine Wangen. Das alles hier entgeht ihm.
Oh Gott, Darian. Du solltest hier sein. Du solltest sie erleben dürfen. Wie sie aufwächst, in die Schule geht, den ersten Liebeskummer erlebt. Du solltest bei ihr sein, Darian. Bei mir.
Ich merke, wie meine Trauer in Verzweiflung umschlägt. Mühsam würge ich sie in mir ab, blinzele die Tränen fort und wische mir mit einem Ärmel über das Gesicht.
Wie schon so oft, nehme ich auch diesmal wieder den dicken Umschlag aus der mittleren Schublade. Wenige Tage nach meiner Rückkehr war er aus Genf
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