Blutflüstern: Novelle (German Edition)
wollte keine Vorstrafen. Solange meine Mutter, Robbie, ich und das Mädchen den Mund hielten – ihre Eltern wurden mit genug Geld ruhiggestellt, um Sarah die Universität und eine Therapie nach Wahl bezahlen zu können –, würde der Vampir wegen Entführung vor Gericht wandern und nicht wegen der schlimmeren Anklage wegen Missbrauchs.
Es machte mir nicht so viel aus, wie ich gedacht hätte. Er wanderte trotzdem ins Gefängnis, und falls die Vampirgerechtigkeit so funktionierte wie beim Rest der Bevölkerung,
würde er wahrscheinlich eines Nachts aufwachen und einen Holzlöffel in seiner Brust finden. Vampire mochten Pädophile kein bisschen mehr als andere Leute.
Also wurde aus Robbies und meinem Besuch bei der I.S. ein anonymer Hinweis, sodass die I.S. – Beamten als die Helden dastanden. Was auch immer. Wollte ich die Ehre, müsste ich auch die Anklagen hinnehmen. Aber Mom hatte mir auf jeden Fall Hausarrest verpasst. Gott, ich war fast neunzehn und hatte Hausarrest. Da lief doch was falsch.
Von Pierce hatte ich seither nichts mehr gesehen. Außer meiner Mom erinnerte sich niemand an ihn.
Ich seufzte, und vor meinem Mund bildete sich eine kleine Wolke, die das erste Morgenlicht einfing.
»Rachel«, sagte meine Mom und zog die Decke um meinen Hals enger, »das ist das dritte Seufzen in genauso vielen Minuten. Ich bin mir sicher, er kommt zurück.«
Ich verzog das Gesicht, als sie meine Gedanken erriet, dann musterte ich den Himmel und die Wolken, die bereits das erste Pink zeigten. Ich hatte gewusst, dass er bei Sonnenaufgang verschwinden würde, aber ich wünschte mir trotzdem, ich hätte mich verabschieden können. »Nein«, sagte ich und hielt meinen Marshmallow in die Flammen. »Wird er nicht. Aber es ist okay.«
Meine Mom umarmte mich. »Ich hatte den Eindruck, dass du ihm wirklich etwas bedeutest. Wer war er?«, fragte sie, und ich verspannte mich ein wenig. »Ich wollte dich nicht vor der I.S. fragen, da er davongehuscht ist, als wollte er nicht, dass man ihn bemerkt.« Sie schnaubte und nahm mir den Stock mit dem inzwischen verbrannten Marshmallow
ab. »Ich nehme ihm das nicht übel«, murmelte sie, während sie den brennenden Zuckerball ausblies. »Sie hätten wahrscheinlich versucht, ihm die gesamte Entführung anzuhängen. Ich mag keine Vampire. Ständig kehren sie ihre Untaten unter den Teppich oder hängen sie jemand anderem an.«
Vorsichtig löste sie den verbrannten Marshmallow von dem Stock und lächelte. Ihre Augen leuchteten im klaren Licht. In Hexenjahren war sie nicht viel älter als ich, aber sie kleidete sich älter, um sich den anderen Moms in der Nachbarschaft anzupassen. Aber das erste Licht des Tages enthüllte, wie jung sie noch war.
»War es jemand aus dem College?«, hakte sie nach, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.
Ich bedeutete ihr, die klebrige schwarze Masse zu essen, falls sie wollte, und während sie so beschäftigt war, warf ich einen nervösen Blick zu Robbie. Er ignorierte mich. »Nur ein Kerl, den ich auf dem Fountain Square getroffen habe«, sagte ich schließlich.
Meine Mutter schnaubte wieder. »Und da ist noch was, Missy«, sagte sie, aber es war Robbie, dem sie auf die Schulter schlug. »Ihr habt gesagt, ihr geht zum Konzert.«
Robbie warf mir einen finsteren Blick zu. »Ach, Mom, ich musste die Tickets versetzen, um dein Sonnwendgeschenk zu kaufen.«
Das war eine Lüge, aber sie schluckte sie, gab glückliche Muttergeräusche von sich und drückte ihm einen klebrigen Kuss auf die Wange.
»Da haben wir Pierce getroffen«, sagte ich, um der Geschichte ein wenig Wahrheitsgehalt zu verleihen. »Hätten wir ihm nicht geholfen, hätte es keiner getan.«
»Ihr habt das Richtige getan«, sagte meine Mom entschieden. »Wenn ich dir deinen Marshmallow röste, wirst du ihn essen, Liebes?«
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, ob sie vielleicht genau wusste, wie ich ihn getroffen hatte. Wahrscheinlich schon, nachdem bei meinem letzten Besuch in der Küche alle Überreste meines Zaubers wieder verpackt und auf dem Speicher gewesen waren.
Robbie nahm seinen Stock und hielt den nächsten Marshmallow über das Feuer. Er mochte sie nur so leicht gebräunt, dass es fast keinen Sinn machte. »Also, ich nehme an, dein kleines Abenteuer hat dich von der Idee geheilt, zur I.S. zu gehen?«, fragte er, und ich riss den Kopf hoch.
Schockiert starrte ich ihn an, weil er das Thema vor Mom aufgebracht hatte. Sie saß plötzlich sehr still zwischen uns.
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