Bluthochzeit in Prag
Dolgan blieb im Wagen sitzen und nestelte an dem schwarzen Schal herum, der in ihrem Schoß lag.
»Sie haben meinetwegen eine Reportage versäumt«, sagte sie. »Ist das schlimm?«
»Unwichtig. Mein Chefredakteur wird knurren, aber er wird mir nicht beweisen können, daß ich nicht noch rechtzeitig da war.« Pilny ließ die Hände auf dem Lenkrad und vermied es, Irena anzusehen. In ihm war ein Sturm, den er nicht zu überleben glaubte. Es war, als wirble sein Herz wie ein welkes Blatt in seinem Körper. »Sie könnten mich retten, wenn ich mit Ihnen ein Interview machte: Ein deutsches Mädchen in Prag. Wie sieht es diese Stadt, wie empfindet es den Prager Frühling, was denkt es, wenn es über die ›Hundert Türme‹ blickt. Oder besser –« Pilny drückte sich innerlich die Hand zu dieser Idee. »Wir gehen durch die Stadt. Wir wandern durch die Jahrhunderte. Und Sie erzählen mir dabei, wie Sie Prag sehen. Das gibt eine mehrteilige Reportage und beschäftigt uns mindestens acht Tage.«
»Danke.« Irena stieß die Tür auf und sprang auf die Straße. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich vor den Knüppeln der Polizisten gerettet haben.«
»Halt!« Pilny beugte sich vor. »Darf ich Sie nicht wiedersehen, Irena?«
»Wenn Sie mal wieder an der richtigen Stelle stehen, während wir demonstrieren … sehr gern!«
»Und sonst nicht?«
Irena Dolgan gab darauf keine Antwort. Sie drehte sich um und klingelte an der Tür des Hauses Nr. 3. Eine dicke alte Frau öffnete, sah böse auf Pilnys Auto und warf die Tür mit einem Knall hinter Irena zu.
Im Funkhaus ließ sich Karel an diesem Tag nicht mehr sehen. Er rief von einer Wirtschaft an, erklärte, er sei zu spät gekommen, die Studenten seien schon der Polizeigewalt gewichen, als er auf dem Wenzelsplatz eintraf, erzählte etwas von Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen und fuhr dann ziellos durch die Stadt. Spät am Abend kam er nach Hause. Schon auf der Treppe des alten Gebäudes roch er den herben Duft aus Frau Plachovás Kochtöpfen. Er atmete ihn tief ein, fühlte sich geborgen wie in Mutters Schoß und wusch sich schnell in seinem Zimmer.
Als er ins Eßzimmer kam, saß Frau Plachová schon am Tisch und füllte mit einer großen Kelle Suppe in den Teller Pilnys.
»Guten Abend«, sagte Pilny und setzte sich brav wie ein Junge hinter seinen Teller, nahm die Serviette und klemmte sie in den Kragen. »Es riecht wundervoll, Mutter Bozena.«
»Bramboracka. Sie mögen sie doch so sehr.« Die lange, knorrige Frau Plachová rührte mit dem Schöpflöffel in dem Suppentopf. Bramboracka, das muß man wissen, ist eine Kartoffelsuppe, gewürzt mit Waldpilzen. Eine Suppe, die das Herz erwärmt und das Gemüt besänftigt.
»Sie sind ein Engel«, sagte Karel Pilny und starrte in seinen Teller. »Sie sind der einzige Mensch, Mutter Bozena, den ich auf der Welt noch habe. Sie sollen es deshalb auch zuerst und als einzige wissen: Ich habe mich verliebt!«
»Das ist nichts Neues, Karel Pilny. Essen Sie, die Suppe wird kalt und bekommt eine Haut.«
»Dieses Mal ist es ernst.« Er legte den Löffel hin. »Es ist so ernst, daß ich keinen Bissen hinunterkriege.«
»Eine Bramboracka läuft von allein in den Schlund. Essen!«
»Mutter Bozena … ich kann nicht.«
»Essen und Liebe sind zwei verschiedene und doch verwandte Dinge. Überlegen Sie, Karel Pilny –« Frau Plachová klopfte mit ihren knöchernen Fingern auf den Tisch wie eine Gouvernante vor dem Tischgebet. »Wenn Sie nichts essen, werden Sie schwach. Wie können Sie lieben, wenn Sie schwach sind? Machen Sie mir keine Schande, Karel.«
Sie wies auf den Teller, stumm, mit strengen Augen, ein dürrer, vertrockneter Pfahl, über den man Menschenhaut gespannt hatte.
»Essen!«
Und Karel Pilny aß und dachte dabei an Irena Dolgan. Er war sich bewußt, daß er diese Nacht nicht schlafen, sondern wach am Fenster stehen, in den Mond starren und sich so dumm wie alle Verliebten seit Jahrtausenden benehmen würde.
Am Morgen, als Irena Dolgan aus dem Haus trat, wartete Pilnys kleiner Wagen schon am Straßenrand. Er selbst hockte hinten auf dem Kofferraum und rauchte.
»Endlich«, sagte er, warf die Zigarette weg und kam strahlend auf Irena zu. »Seit sieben Uhr warte ich auf Sie. Weiß man, wann hübsche, junge Mädchen aufstehen und in die Stadt fahren?«
Irena lachte, gab Pilny die Hand und stieg in den Wagen. Das war so selbstverständlich, wie sie vor zehn Minuten Kaffee getrunken und eine Brezel gegessen hatte.
Karel Pilny
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