Blutige Nacht
überschritten. Die Verwandlung hat eingesetzt, und genau wie im Moment der Erlösung bei einem Orgasmus könnte selbst Moses das Folgende nicht mehr abwenden. Der Schmerz der Verwandlung ist so bitter wie süß. Knochen versetzen sich und ziehen meine Stirn nach vorn. Mein Gesicht wird länger. Meine Eckzähne wachsen. Mein Kiefer löst sich aus den Gelenken. Meine Augen werden ganz schwarz, als sie sich mit Blut füllen.
Ein Blick in Michaels Gesicht, der der Verwandlung beiwohnt, zeigt mir, dass er soeben erst feststellt, wie viel mehr es über die Realität, die er zu kennen glaubte, zu erfahren gibt. Ich empfinde nicht das kleinste bisschen Mitgefühl für ihn. Für meine Begriffe sind Bestien wie er so unnötig wie ein Kropf, weshalb ich nur auf solche Jagd mache. Keine Frauen. Keine Kinder. Keine Unschuldigen. Das sind die Regeln. Ich bin kein Held, doch wenn ich schon Leute umbringen muss – und das muss ich –, dann können das meiner Meinung nach genauso gut diejenigen sein, die es verdienen zu sterben. So habe ich mich sozusagen mit mir selbst arrangiert. So gehe ich mit dem um, was aus mir geworden ist.
»Ich weiß, dass du das nie wieder tun wirst«, sage ich.
Kapitel 1
D er Anbruch der Dunkelheit wird von Schmerzen begleitet. Ich spüre die untergehende Sonne tief in meinen Knochen, so wie alte Leute einen aufkommenden Sturm vorausahnen können. Mein Durst ist geweckt wie bei den ersten Anzeichen eines Rauschgiftentzugs. Vor Durst fast verschmachtend, erhebe ich mich mit staubtrockener Kehle.
Ich drücke den Deckel der Tiefkühltruhe auf, die so groß ist wie die einer Großküche und mir als Sarg dient. Die Gefriertruhe konserviert mich, verlangsamt die krebsartig wuchernde Verwesung, die mich im Wachzustand von innen auffrisst. Auch wenn sie erheblich langsamer voranschreitet als der allgemeine Zersetzungsprozess, so gehört der Gestank von Fäulnis zur hässlichen Wahrheit, mit der ein Untoter leben muss. Eine dieser kleinen Zugaben, von denen man nichts weiß, bevor man ein Vampir ist.
Frostdurchzogene Luft umgibt mich wie ein Cape, als ich nackt durch die dunklen Räume meiner Bude in North Hollywood gehe. Die Wohnung sieht nach nichts aus, ist nur ein heruntergekommenes Büro mit einer Kochnische sowie Dusche und WC, aber sie ist mein Zuhause.
In Bezug auf Möbel und Gerätschaften habe ich nicht viel; ich bin nicht das, was man einen Sammler nennen würde. Die Liste meiner Besitztümer kann ich in 25 Worten oder weniger zusammenfassen: Schreibtisch, Stühle, Anrufbeantworter, Telefon, Aktenschrank, Mini-Kühlschrank, Tiefkühltruhe, Bogart-Hut, fünf Anzüge, zwei Paar Schuhe, ein Auto. Ach ja, und einen Revolver. Für Adjektive müssen Sie schon extra bezahlen.
Ich gehe von der Kochnische in das eigentliche Büro. Der Motor der Kühltruhe brummt stumpfsinnig im Einklang mit dem entfernten Verkehrslärm der 101. Als meine gefrorenen Glieder langsam auftauen, setzt ein dumpfer und verhalten angenehmer Schmerz ein. Ich bemerke das kaum. Ich habe wichtigere Anliegen. Zitternd, nicht vor Kälte, sondern vor Durst, gehe ich mit steifen Beinen zu meinem Schreibtisch und mache das Licht an. Ich drücke auf den Knopf meines Anrufbeantworters. Keine Nachrichten, während ich auf Eis gelegen habe. Gar nichts.
Meine zitternden Finger öffnen eine Seitenschublade und nesteln an dem Reißverschluss meiner verschlissenen Ledertasche herum. Im Licht fällt mir auf, dass sie von einer dünnen Schicht Staub von der Friedhofserde überzogen ist, die den Boden meines Kühlhaus-Sargs auspolstert.
Zeit für einen Schuss.
Ich begebe mich zu dem kleinen Kühlschrank, der direkt unter dem mit Aluminiumfolie verdunkelten Fenster steht. Die Nachbarn denken wahrscheinlich, ich führe ein Meth-Labor, tatsächlich ist es aber so, dass die Sonne und ich nicht gerade gut aufeinander zu sprechen sind – schon seit einer ganzen Weile nicht mehr.
Ich knie mich auf den Boden. Meine gefrorenen Kniescheiben krachen so laut wie eine Pistole Kaliber 22. Ich öffne den Kühlschrank und stelle fest, dass nur fünf blutrote Glasphiolen übrig sind. Verdammt. Ich war der Meinung, ich hätte noch mehr. Ich schnappe mir eine davon, halte sie ins Licht des Kühlschranks und erfreue mich an der braunroten Färbung der Flüssigkeit, die das Glas der Phiole umschmeichelt. Abgesehen von der Farbe Rot nehmen Vampire die Welt nur Schwarzweiß wahr. Also muss man alle roten Dinge auskosten. Vergöttern.
Ich kann meinen Schuss
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