Die Wohltäter: Roman (German Edition)
Prolog
MIRIAM Westdeutschland 1972
Ihre Hände waren zu klein, um sich festzuhalten. Stattdessen wurden sie von zwei großen, erwachsenen Händen umschlossen, die sie vorwärts führten. Mitunter zerrten sie an ihren Armen.
Sie würde erst später etwas zu essen bekommen. In einer Weile, hatten sie gesagt. Sie war jedoch hungrig. Bei Oma war das Essen nicht besonders gut. Aber zuerst würden sie mit dem Flugzeug fliegen, und das hatte sie schon mal gemacht. Sie trug ihre dicke Jacke und hatte ihr eigenes Reisegepäck in einem kleinen Panda-Rucksack auf dem Rücken. Leider konnte ihr Papa nicht dabei sein, aber er würde bald nachkommen. Sie hatte bereits mehrmals nach ihm gefragt, und sie antworteten immer dasselbe. Bald. Sie wusste, dass er es nicht mochte, wenn sie schrie oder nörgelte. Also fragte sie nur ab und zu, um sich zu vergewissern, protestierte jedoch nicht. Sonst würde er vielleicht nicht kommen.
Es waren viele Große unterwegs, die direkt auf sie zuliefen, sodass sie es nicht wagte, ihre Hände wegzuziehen, auch wenn es keinen Spaß machte, ohne Papa zu verreisen. Die Menschen rannten sie beinahe um, keiner warf einen Blick zu ihr hinunter. Sie wichen einfach aus, kurz bevor sie über sie stolperten. Alle redeten ununterbrochen, und zwischendurch drang eine noch lautere Erwachsenenstimme aus der Decke und sagte etwas in einer fremden Sprache.
Sie kannte sowohl die Mutter als auch den Vater, die an ihrer Seite liefen, sie hatte sie schon oft getroffen. Es waren nicht ihre Eltern, sondern Mamas und Papas von anderen Kindern, so viel war sicher, und nun würden sie mit ihr gemeinsam fliegen. Sie hoffte, ihr eigener Papa würde rechtzeitig ankommen, zumindest bevor sie ins Bett musste. Noch war es hell, aber es wäre schön, wenn Papa da wäre, bevor es dunkel würde. Damit er ihr aus dem Buch vorlesen konnte. Das tat er fast immer. Mitunter übersprang er einige Sätze, was sie allerdings sehr böse machte. Sie konnte das Buch fast auswendig.
Wie schade, dass ihr Papa nicht da war, aber er würde bald kommen. Das hatten sie gesagt. Sie wiederholte den Satz im Stillen, während sie sich darauf konzentrierte, so schnell wie möglich zu laufen.
Ihr kleiner, hellblonder Kopf tauchte kurz zwischen den beiden großen Personen auf, zu denen sie ihre Arme hinaufreckte. Kurz darauf verschwand sie in der Menschenmenge. Wer sie bemerkt hatte, vergaß sie schnell wieder.
Die einzige Wahrnehmung von außen, die zu Jürgen vordrang, war der Geruch starken Putzmittels, der aus den Sitzbezügen aufstieg. Er saß schweigend auf dem Fahrersitz und starrte ins Schwarze hin aus. Die Stille schien angemessen für den Wechsel zwischen dem Alten und dem, was nun beginnen sollte. Er hielt einige Sekunden den Atem an, auch, um dem Geruch auszuweichen. Dann atmete er aus. Er war bereit.
Die Autotür wurde geöffnet, und er nickte zufrieden vor sich hin. Pünktlichkeit passte hervorragend zu seinem eigenen, detaillierten Plan. Außerdem zeugte sie von Respekt.
»Guten Abend, Jürgen.«
Jürgen antwortete nicht. Mit halboffenem Mund starrte er die Person an, die auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Dies war der vollkommen falsche Mann, nicht der Staatsanwalt, mit dem er ein Treffen vereinbart hatte. Der Mann, der jetzt dort saß, war Wendel. Jürgens Atem stockte.
»Wir lieben dich.« Wendel sah Jürgen ernst an und nickte. »Das weißt du. Und wir würden dich nie verraten. Wir wissen, dass jeder einmal auf Abwege geraten kann.«
Jürgen wollte eine Antwort hervorbringen, aber es gelang ihm nicht, weil der Besucher auch schon fortfuhr:
»Du befindest dich in einer besonderen Situation, so war es schon immer. Damit du sie nicht weiter verschlimmerst, kümmern wir uns jetzt für dich um Miriam.«
»Nein«, sagte Jürgen hastig. »Nein. Sie...« ist bei ihrer Oma, hatte er sagen wollen, hielt jedoch inne, als ihm der unfassbare Gedanke kam.
»Wir wissen nahezu alles, was du dir gedacht hast«, unterbrach Wendel ihn barsch. »Wir haben sie abgeholt, und wir werden für sie sorgen. Kein Grund zur Beunruhigung. Sie wird von Liebe umgeben sein. Sie ist eine von uns.«
»Nein«, wiederholte Jürgen unbeholfen und versuchte, so schnell wie möglich zu denken. »Ihr habt meine Tochter nicht geholt.« Weil es praktisch unmöglich ist. Weil ich gestern noch mit ihr gesprochen habe. Weil ihr nicht wisst, wo sie ist.
»Wir haben es bereits getan«, sagte Wendel. »Und wir haben es dir zuliebe getan. Nur weil du
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