Blutiges Schweigen
Derryn ging ich zum Fenster. Die ersten Nadelstiche des Tages durchbohrten eine Wolkenbank über den Häusern auf der anderen Straßenseite. Ich zog Boxershorts an und beobachtete einen meiner Nachbarn, der gerade sein Auto volllud. Als er fertig war, kam seine Frau in die Einfahrt, küsste ihn und sah ihm nach, als er davonfuhr und um die Straßenecke verschwand.
»Guten Morgen.«
Ich drehte mich um. Liz stand, in ein Handtuch gewickelt, da und musterte mich. Das vom Wasser dunkle Haar lag ihr wie ein dichter Schweif über der Schulter.
»Guten Morgen«, antwortete ich lächelnd und hob die Tasse. »Danke.«
»Gern geschehen.« Sie ging zu meiner Seite des Bettes und ließ sich auf der Bettkante nieder. Ich setzte mich neben sie. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
Ich betrachtete sie. Sie blinzelte. Ein Wassertropfen löste sich aus ihrem Haaransatz und rann ihr über die Wange.
»Wunderbar. Und du?«
Sie nickte. »Tut mir leid, dass ich so früh rausmuss.«
»Bist du heute bei Gericht?«
»Nein«, erwiderte sie. Ihr Blick wanderte über mein Gesicht. »Ich fahre wieder nach Warwick zu Katie. Sie hat nächste Woche ein Bewerbungsgespräch bei einer Investmentbank wegen eines Graduiertenprogramms. Erst verabreiche ich ihr eine mütterliche Aufmunterungskur, und dann fahren wir wahrscheinlich nach Birmingham und machen einen Einkaufsbummel.«
»Freust du dich auf das Wiedersehen?«
»Sehr.«
Ich dachte an die Fotos von den beiden, die ich bei Liz gesehen hatte. Katie ähnelte ihrer Mutter und war ebenfalls eine Schönheit, nur dass sie noch längeres und dunkleres Haar hatte.
»Es tut mir leid.«
Ich blickte Liz an. »Was tut dir leid?«
»Dass ich einfach so gehe.«
»Du gehst nicht einfach so«, erwiderte ich, »sondern du triffst dich mit deiner Tochter. Das ist ein ehrenwerter Grund.« Ich trank noch einen Schluck Kaffee. »Außerdem ist so ein Kaffee ein tolles Abschiedsgeschenk.«
Sie kuschelte sich an mich und küsste mich. Als sie wieder wegrutschte, ließ sie mich nicht aus den Augen. Offenbar hatte sie mit einer Abwehrreaktion gerechnet.
»Ich bereue nichts«, sagte ich.
»Bist du sicher?«
Weitere Wassertropfen kullerten über ihr Gesicht. Sie legte mir die Hand aufs Knie und musterte mich, als suche sie nach Anzeichen von Zweifeln.
»Derryn war fünfzehn Jahre lang ein Teil meines Lebens«, begann ich und berührte ihre Hand. »Sie war meine erste große Liebe und während unserer gemeinsamen Zeit das Einzige, was für mich eine Rolle spielte. Wenn du wissen willst, ob es anfangs Momente geben wird, in denen ich mir nicht sicher bin und das Gefühl habe, dass alles zu schnell geht, lautet die Antwort: ja. Aber wenn du fragst, ob ich bereue, was wir getan haben, oder ob ich unsere gemeinsame Nacht rückgängig machen möchte – nein, das will ich nicht. Du warst für mich da. Ich bereue nichts.«
Ihre Augen wurden ein wenig feucht.
Ich strich mit der Hand über ihr Gesicht, wo ein Rinnsal
Wasser an ihrem Ohr vorbei bis zum Hals geflossen war. »Ich habe dir doch gestern schon gesagt, dass du nicht mit ihr zu konkurrieren brauchst.«
»Gut«, meinte sie leise.
»Ich werde Derryn immer lieben«, fuhr ich fort. »Ein Teil von mir wird sie immer lieben, ganz gleich, was geschieht.«
Sie nickte.
»Aber …« Ich hielt inne und schaute ihr in die Augen. »Ich bin die Einsamkeit leid. Und auch die Angst vor dem Loslassen. Ich bin es leid, ihre Fotos anzusehen und jedes Mal, wenn ich an meine Zukunft denke, von Schuldgefühlen erstickt zu werden. Ich habe Schuldgefühle, obwohl Derryn mir nie welche gemacht hat. Sie hätte nicht von mir verlangt, dass ich mich den Rest meines Lebens an jede Erinnerung klammere, die der Anblick eines der Fotos in mir auslöst. Wenn sie wüsste, wie ich nun schon seit fast zwei Jahren lebe, allein in diesem Haus und erfüllt von Angst vor dem Sprung ins kalte Wasser … das würde sie mir nie verzeihen. Sie hätte gewollt, dass ich in die Zukunft schaue.«
Ich fuhr Liz mit der Hand durchs Haar, beugte mich vor und küsste sie.
»Und genau das werde ich jetzt tun …«
Später, als ich Liz’ Auto nachblickte, das im Regen verschwand, dachte ich über ihre Worte nach. Die Löcher in der Welt zu stopfen, weil du die Erfahrung gemacht hast, wie es ist, jemanden zu verlieren, und du es jetzt für deine Pflicht hältst, anderen dieses Leid zu ersparen.
Sie hatte recht gehabt.
Sie hatte es noch vor mir erkannt und verstanden, warum ich mich
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