Blutrote Schwestern
Augen zusammen, um das Mal besser erkennen zu können. Es war ein Pfeil. Anders als die Tätowierungen der Holzfäller, die ein Stück weit die Straße hinab arbeiteten, wirkte der dunkle Fleck wie ein Teil seiner Haut. Oma March folgte Scarletts Blick, und plötzlich wurde ihr Mund zu einem schmalen Strich. Es war, als hielte der Wind den Atem an. Die funkelnden Augen des Vertreters schienen sich zu umwölken, nahmen erneut den schaurigen Ausdruck an, mit dem sie Scarlett am Gartenzaun betrachtet hatten.
»Wir brauchen nichts. Danke sehr, mein Herr«, sagte Oma March mit harter Stimme.
Niemand bewegte sich. Wie Hunde, die absolut stillstehen, ehe sie sich in den Kampf werfen, dachte Scarlett. Einmal mehr leckte der Vertreter sich über die Lippen und starrte Oma March an – eine Ewigkeit, wie es schien –, ehe ein kriechendes Lächeln seine Mundwinkel nach oben zog.
»Sind Sie sich sicher?«, sagte er noch, als Oma March bereits die Tür schloss.
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, wirbelte sie herum und sah die Mädchen an – ihr Gesicht bleich, die Augen blasse grüne Scheiben, ein ganz und gar fremdartiger Ausdruck auf dem Gesicht der Großmutter. Ängstlich wich Scarlett zurück, und der Eisstiel fiel klappernd zu Boden.
»Cachez vous!«
Oma March flüsterte rauh und deutete eindringlich auf ihr Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses.
Versteckt euch. Versteckt euch sofort.
Nervös wandte sich Rosie vom Fernseher ab und griff nach der Hand ihrer Schwester. Scarlett öffnete den Mund, wollte fragen, was los sei, aber noch ehe sie die richtigen Worte finden konnte, erklang ein kehliges, wütendes Heulen von der anderen Seite der Eingangstür. Dem Mädchen stockte das Blut in den Adern.
Oma March schlug einen hölzernen Balken quer über die Tür, griff nach einem der leuchtend gelben Küchenstühle und verkeilte ihn unter dem Türknauf, der sich nur wenige Wimpernschläge später wie wild zu drehen begann.
»Schätzchen, meine Schätzchen, er wird euch nicht bekommen!«, murmelte Oma March tonlos, wie ein Gebet. Dann stürzte sie zum Telefon und wählte hektisch eine Nummer: »Charlie? Charlie, hier ist einer. Draußen«, flüsterte sie Pa Reynolds, dem Holzfäller, verzweifelt zu. »O Gott, Charlie, beeil dich!« Dann warf sie den Hörer des avocadofarbenen Telefons auf die Gabel und ging hinter der Couch in die Knie, um auch diese vor die Tür zu schieben.
Ein weiteres tiefes, grollendes Heulen erklang, gefolgt von einem furchtbaren Scharren an der Tür.
Oma March riss den Kopf zu ihren Enkelinnen herum, die Augen feucht und flehend. »Scarlett! Mach dir um mich keine Gedanken. Nimm Rosie und versteckt euch!«
Scarlett nickte, packte die Hand ihrer Schwester, zerrte sie in Oma Marchs Zimmer und schlug die Tür hinter ihnen zu. Eng umschlungen quetschten sie sich in die Ecke zwischen Bett und Bücherregal, atmeten den kühlen Geruch von Waschmittel und muffigen, alten Philosophiebüchern ein und hörten das Ächzen aus dem Nebenraum, als Oma March mit der Couch kämpfte.
Erneut ein Heulen, dann ein scharfer Knall und das Geräusch von auf den Boden regnenden Splittern.
Oma March schrie verzweifelt auf Französisch, doch die Worte wurden übertönt von laut auf den Boden aufschlagenden Möbelstücken, zerreißenden Polstern und klirrenden Pfannen. Scarlett biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie zu bluten begann.
Dann: Stille.
Unheimliche, undurchdringliche Stille, die sich über das kleine Farmhaus legte wie ein Leichentuch und das Gejammer der Kandidaten aus
Der Preis ist heiß
erstickte.
Die Schwestern klammerten sich aneinander, fast wie Spiegelbilder, bis es schien, als wären ihre beiden Herzen ein einziges Organ, das zwischen ihnen hämmerte. Rosie vergrub ihre kleinen Finger in Scarletts dickem schwarzem Haar und versteckte ihr Gesicht im Nacken ihrer Schwester. Scarlett strich mit einer Hand beruhigend über Rosies Kopf, während sie mit der anderen unter dem Bett nach etwas tastete – irgendetwas, das sie benutzen könnte, um sie zu verteidigen. Etwas anderes als einen Eisstiel. Scarlett schauderte, als sich ein Schatten in dem unter der Tür hereinfallenden Licht abzeichnete. Schließlich ertastete sie mit den Fingern den glatten Griff eines Handspiegels unter dem Bett.
Der Schatten begann auf der anderen Seite der Tür vor und zurück zu wandern, alle paar Schritte unterbrochen von einem rauchigen Knurren und dem Schaben von Krallen auf dem Hartholzfußboden.
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