Vier minus drei
vier
Womit soll ich beginnen?
Mit dem Tag, an dem plötzlich alles anders war?
Mit dem Moment, an dem plötzlich, so schien es mir, nichts mehr war? Anfangen mit dem Unfall, der meinen Mann in eine andere Welt, meine Kinder schwerverletzt ins Krankenhaus und mich in ein neues Leben katapultierte.
Oder im Hier und Jetzt, in meiner neuen Zeit?
An meinem neuen Schreibtisch, der mir im letzten Jahr so sehr vertraut geworden ist, der jedoch die drei Menschen, deren Fotos ihn zieren, nie kennenlernte.
Soll ich irgendwo dazwischen beginnen?
Zum Beispiel mit dem Moment, als mir der Gedanke kam, meine Geschichte aufzuschreiben – mit dem einzigen Ziel, sie aus meinem Kopf herauszubringen, um sie nicht mehr abhängig zu machen von meiner Fähigkeit, mich zu erinnern.
Meine Geschichte. Meine Vergangenheit. Es war einmal.
Wo will ich beginnen?
Am liebsten dort, wo es nicht mehr von Bedeutung ist, womit man beginnt. Beim ausgebeulten, abgegriffenen,
wohlig duftenden Koffer meiner Erinnerung. Seinen Inhalt hat das Leben in seinem schnellen Lauf kräftig durcheinandergewürfelt. Vorsichtig klappe ich den Deckel auf und bemerke, dass alles, was ich einmal als Vorher und Nachher, als Heute, Morgen und Irgendwann erlebte, nun vermischt nebeneinanderliegt.
Die Vergangenheit schwingt ihren Zauberstab und stellt die Zeit auf den Kopf.
Ein neugeborenes Kind. Zwei Geschwister beim Spiel. Eine Schneeballschlacht. Ein Liebespaar. Ein Ehepaar. Ein Streit. Ein Lachen. Ein Theatervorhang. Ein Urlaubstag am Meer. Ein dicker Bauch.
Wo soll die Betrachtung beginnen? Meine Laune nimmt mich an der Hand. Gemeinsam wollen wir eintauchen, in die vielfarbige Welt der Erinnerung. Als Pforte wählen wir das Foto eines lachenden Mannes in einer grünen Regentonne. Aufgenommen an einem Sommertag. In einer Zeit, von der ich glaubte, sie sei mein ganzes Leben.
Mein Mund hat gelernt, diese Zeit Vergangenheit zu nennen. Auch wenn mein Herz das vielleicht niemals begreifen wird.
Szenen aus unserem gemeinsamen Leben schweben durch meinen Geist wie Seifenblasen. Schillernd in tausend Farben, fröhlich vor meinen Augen tanzend. In ihrem flüchtigen Glanz zeigen sie mir mein eigenes, vergangenes Spiegelbild.
Sie entziehen sich der Berührung.
Lassen sich nicht fangen. Nicht greifen. Nicht halten.
Nicht mehr.
Ich liebte sie schon als Kind, die Seifenblasen. Und ich liebe sie noch heute, als Clown, bei meiner Arbeit im Krankenhaus. Ich habe noch kein Kind getroffen, das nicht angezogen wurde von den schimmernden Bällen und ihrem leisen Flug durch die Luft. Kein Kind, das nicht nach kurzem Staunen die Ärmchen ausgestreckt hätte, sie zu fangen. Und dann: minutenlang dasselbe Spiel. Der Versuch, den Ball zu greifen, die Verwunderung über sein plötzliches Verschwinden. Ein neuer Versuch, wieder und wieder. Lachen. Staunen.
Sind die Seifenblasen vielleicht die ersten Boten, auserkoren, die Nachricht von der Vergänglichkeit der Dinge in das Leben eines Kindes zu tragen? Wo auf unserem Weg geht uns das kindliche Lachen verloren, darüber, dass alles irgendwann verschwindet und zerplatzt?
Zerplatzt.
Was eigentlich geschieht mit einer Seifenblase, die zerplatzt? Verschwindet sie? Löst sie sich in Luft auf?
Ja. In der Luft aufgelöst finden wir sie wieder. Winzige Seifentröpfchen schweben, beinahe unsichtbar, durch den Raum. Sinken langsam zu Boden, auf unsere Kleidung, in unser Haar. Eine Zeit lang tragen wir sie noch mit uns herum. Das ist das eine, was bleibt.
Doch noch etwas anderes hat Bestand: das Bild der Seifenblase in unserem Kopf. Die Freude, die sie uns brachte. Der Nachhall des sanften Tons in dem Moment, da sie ihre Form aufgab.
Es sind nur Seifenblasenbilder, die ich mit meinen Worten malen kann. Das Leben meiner Familie ist vor geraumer Zeit zerplatzt. Übrig bleiben Eindrücke. Fröhliche
Geschichten von jenem unschätzbaren Wert, den nur das Unwiederbringliche uns zu offenbaren vermag.
Einzelne Bilder drängen hervor, halten sich für wichtiger als die anderen, leuchten intensiver. Haben es eilig, festgehalten zu werden, bevor sie zu Boden fallen und der Erinnerung entgleiten. Ich picke mir das erstbeste Bild heraus. Nicht zufällig ist es der Anfang der Geschichte zweier Liebender, die Mann und Frau werden sollten.
Unser Leben. Es währte acht Jahre.
»Ein Leben lang«, so hatten mein Mann und ich versprochen, würden wir einander lieben, ehren, achten. Ein Leben lang wollten wir einander treu sein und gemeinsam
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