Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutrotes Wasser

Blutrotes Wasser

Titel: Blutrotes Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Torsten Krueger
Vom Netzwerk:
Dämmerlicht aufleuchtenden Verbände am
Handgelenk. Er schwieg und presste die Augen zusammen. Nichts sehen wollen. Er
wartete. Hörte irgendwann, wie seine Mutter aufstand und zur Tür ging, o ja, das
Quietschen der abgelaufenen Absätze ihrer Schuhe kannte er gut. Er hörte, wie sie
die Tür öffnete. Spürte einen Hauch Zugluft. Hielt krampfhaft die Augen
geschlossen.
    »Warum?«, hörte er seine Mutter. Leise geflüstert. Die Worte eines
Geistes eben. »Warum, Lázlo?«
    Seine Augen blieben zu. Er lauschte und registrierte das Klicken, als
sie die Tür schloss. Ihre ewig quietschenden Schritte draußen auf dem Gang. Dann nur
noch die Schlafgeräusche der anderen, das Summen und Piepsen der Apparate und
Klimaanlagen. Die Brandung von Budapest am Fenster. Und sein Schluchzen. Tief, von
ganz unten.
    Warum, dachte Lázlo. Du dumme Gans, warum wohl, weil mein Leben kaputt
ist, bevor ich überhaupt damit anfangen konnte. Weil Irina nur gelacht hat.
    Weil Papa seit genau fünf Jahren tot ist.
    Umgebracht. Ermordet. Totgeschlagen.
    Genügt das nicht?
    12.15 Uhr, Gellért-Bad
    Imre Rutschek starrte auf seinen König. Rochade oder nicht, das war
jetzt die Frage. Sein Kollege Géza wurde schon ungeduldig und brummte in graue
Bartstoppeln: »Nun mach schon, Imre. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
    »Nein?«, fragte Imre und schaute seinen im Wasser planschenden
Schachfreund an. Ein Spiegelbild von mir, dachte er: dieselbe Altmännerbrust,
wabbelig und schlaff, derselbe Bauch, zu dick von zu viel Dreher-Bier. Auf der Nase
eine Brille und auf dem fast kahlen Schädel eine zerfranste Badekappe. Genau wie bei
mir, dachte Imre. Wie ein Spiegel, ein Zwilling.
    »Willst du warten, bis das Wasser kalt wird?« Géza patschte
gelangweilt. Imre schnaubte über den schlechten Witz: Dieses Wasser würde nie kalt
werden. Schmeichelnde Temperaturen um die 40 Grad, mineralreiche Wärme, die schon
die alten Römer genossen hatten. Die Thermalbäder in Budapest – sie waren
weltberühmt und würden so schnell wirklich nicht abkühlen, das wusste Imre zufällig
genau. Das Gellért, wie die anderen Thermalbäder in Budapest, wurde direkt aus der
Erde unter ihnen gespeist, mit heißem Quellwasser voller gesunder Elemente und
Mineralien. In Ungarn gab es Seen, die selbst im Winter dampften und zum schwimmen
einluden, ja, Ungarn war ein Land mit Fußbodenheizung. Auch Imre Rutschek besuchte
fast täglich die Thermalbäder, ging oft ins Rudas, manchmal ins Széchenyi, wo das
Schachspielen im Wasserbecken eine längere Tradition hatte als hier. Zumal das
Gellért-Bad mittlerweile so teuer war, dass es sich fast nur noch die Touristen
leisten konnten. Aber man gönnte sich ja sonst nichts.
    Imre streckte sich, genoss das warme Wasser in dieser riesigen
Badewanne und blickte vom Schachspiel auf. Schaute hoch zum Tonnendach der großen
Schwimmhalle, die nur mit Glas verkleidet war. Sommerliches Mittagslicht fiel durch
diese Fenster und leuchtete auf ihn herab. Die ganze Halle protzte mit ihrer
Schönheit und Verspieltheit, war gedacht und geformt wie ein Theater. Mehrere
Stockwerke hoch stapelten sich die Balkonbrüstungen an den Wänden, von denen man
hinab ins Thermalbecken schauen konnte. Kostbare Mosaike, von welken Palmenblättern
flankiert, glitzerten an den feuchten Wänden, und die farbige Keramik an den Mauern
leuchtete wie aus einer anderen Welt. Luxus, Pracht und die Erinnerung an römische
Bäder, verspielte, geschwungene und elegante Formen – Jugendstil * eben.
    Imre Rutschek gähnte; sein Blick kehrte auf das Schachbrett zurück.
Rochade oder nicht, das war immer noch die Frage. Ansonsten blieb nur der linke Turm
oder ein Bauern­opfer. Opfer. Was wäre eigentlich, wenn er seine Dame …?
Angestrengt starrte Imre auf die Figuren. Ja, das könnte funktionieren. Wenn er die
Dame auf C4 stellte, musste Géza seinen Läufer ins Spiel bringen. Und dann …
    Immer noch auf das Brett fixiert murmelte Imre: »In drei Zügen bist du
matt, mein Lieber!«
    »Nein!«
    »Glaubst mir nicht, Géza? Du verlierst doch oft genug und …«
    »NEIN!«
    Erst jetzt löste sich Imre von den Figuren und blickte hoch. Die Augen
seines Schachfreundes waren weit aufgerissen, der Mund stand lächerlich weit offen
und seine faltigen Finger zeigten auf irgendetwas hinter Imre im Becken des
Thermalbads. Das leise Plätschern und Murmeln der Gäste hatte sich gewandelt:
erstaunte Rufe, ängstliche Schreie.
    Imre drehte sich um. Das Gellért-Bad, der mondäne

Weitere Kostenlose Bücher