Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
Schlaf. Kaum aber ist das Geräusch der Schritte Friedrichs wieder abgeebbt, da geht es los: „Willi! Willi! Mensch, ham se dich doch wieder bei ’n Arsch gekriecht? Willi, wann türmste wieder? Willi, der Friedrich kann wieder eine Abreibung vertragen, wann is se fällig?“ So prasseln die Fragen auf Willi ein. Weiße Nachthemden umsäumen sein Bett, vier Jungens sitzen links, vier rechts, zwei stehen am Kopf, vier am Fußende. „Willi, wo warst denn? Erzähl’ doch, Mensch! Was macht Berlin? Hast orntlich mit de Mädels? … Hast was zu rauchen? Nu mach doch mal das Maul auf, Willi! Wo hast denn die eische Schale her? Kiek ma, Fritz, den feinen Mantel, un den Anzug.“ Und Willi erzählt. Er berichtet von seiner Flucht. Wie er, anstatt in Berlin, kurz vor Köln aufwachte. Er gedenkt des Stromers Franz, des guten Kumpels; schildert die Todesnacht unter dem D-Zug.
Die Jungens hören atemlos zu. Sie erleben alle mit. Sie kämpfen ihn alle mit, den Kampf um das bißchen Freiheit. Wie Willi endlich in Berlin ankam, die furchtbaren Tage, die nun folgten. Dann das Zusammentreffen mit Ludwig. Die Clique verschweigt er. Wie sie auf einen grünen Zweig kamen und Geld verdienten. Bis sie ein Unbekannter bei der Polizei denunzierte. Das muß ein Saukerl gewesen sein, darüber gibt es nur eine Stimme. „Na, noch sechs Monate. Dann können sie mich alle …“, schließt Willi seine Schilderung. Von seiner Abmachung mit Ludwig erzählt er natürlich nichts. Spitzel gibt es überall, der Blaustein zum Beispiel. Er erkundigt sich nach ihm. „Blaustein? den ham se ’rausgelassen. War ja Papas Liebling.“ In dieser Nacht wird wenig geschlafen in Saal eins. Wach liegen die Jungen in ihren Betten und erleben Willis Abenteuer am eigenen Leibe.
„Deshalb möchte ich Sie bitten, meine Herren, den Kludas möglichst ungeschoren zu lassen. Ich habe keine Lust, mir während der paar Monate, die der Junge noch hier ist, Ärger über Ärger zu bereiten. Der Bengel ist vollkommen verwildert und verroht, das sah ich ihm gestern abend sofort an. Was wollen wir uns mit solchem Gelichter abquälen. Übrigens wird er ja auch bald vor Gericht kommen wegen des Überfalls auf Herrn Friedrich. Hoffen wir, daß er dort ein paar Monate aufgebrummt bekommt, dann sind wir ihn los. Ich werde jedenfalls dem Gericht ein entsprechendes Charakterbild geben, so daß eine Bewährungsfrist nicht in Frage kommen dürfte. Guten Morgen, meine Herren.“ Der Direktor hat die Konferenz beendet.
In der ersten Zeit gelingt es Willi und Ludwig nur wenig, ungestört miteinander zu sprechen. Gleich fährt ein Erzieher dazwischen: „Was gibt es da wieder für Durchstechereien?!“ Vier Wochen verstreichen in dem ewigen Einerlei. Systematisch wird jede Regung einer Individualität grausam zerstört. Hier werden keine Extrawürste gebraten, jeder hat sich der Anstaltsordnung zu unterwerfen. Warum auch diese Jungens individuell behandeln? Wenn sie herauskommen aus der Anstalt, gehen sie stempeln.
Eines Tages bekommt Willi die Anklageschrift des Jugendgerichtes zugestellt. Körperverletzung . Zehn Tage später wird er von zwei Erziehern dem Gericht vorgeführt. Willi ist allein angeklagt, seine Helfer haben sich nicht feststellen lassen. Herr Friedrich sagt aus über die Tat und spricht von „gesundheitlichen Schäden, die sich zeitweilig noch jetzt bemerkbar machen“. Der Herr Direktor malt Willis Charakterbild. Willi ist verstockt, unglaublich verroht und Gewalttätigkeiten sind sein absolutes Element. Er ist geradezu eine Gefahr für die Anstalt.
„Angeklagter, bereuen Sie denn wenigstens Ihre häßliche Tat?“ fragt der Richter. „Ich muß doch die Wahrheit sagen, Herr Richter, nicht?“ „Selbstverständlich!“ „Herr Richter, ich bereue die Tat nicht. Herr Friedrich hat uns zu sehr gequält!“ zerstört Willi sich die goldene Reuebrücke. Diese Offenheit behagt dem Direktor sehr. Er weiß jetzt, daß er den Jungen los wird. „… ich beantrage deshalb eine Gefängnisstrafe von drei Monaten. Ferner bitte ich ausdrücklich, dem Angeklagten wegen seineroffen zutage tretenden rohen Gesinnung, die voll die Schilderung des Herrn Direktors bestätigt, eine Bewährungsfrist zu verweigern“, plädiert der entrüstete Staatsanwalt.
„Der Angeklagte wird zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten verurteilt. Zu einer Bewährungsfrist hat sich das Gericht nicht entschließen können, da der Angeklagte ausdrücklich auch jetzt noch die Tat
Weitere Kostenlose Bücher