Blutschwestern
geeignet gewesen wären, einen Jahrtausende alten Fluch zu brechen. Ihre Stimme
klang überzeugt, jedoch zu kindlich, um Vertrauen in ihre Worte zu legen. »Akari wird stark sein. Ich glaube an sie, und ich
glaube an unsere Verbundenheit. Und wenn nicht, gibt es vielleicht noch einen anderen Weg, der zwar gefährlicher und mühsamer
ist, doch ich werde ihn beschreiten, wenn ich es tun muss!«
Nona konnte sehen, wie der Blick der Waldfrauen auf Ilana ruhte und Ilana die Frauen ihrerseits nicht aus den Augen ließ.
Dann wandte sie sich um und bedeutete Nona, mit ihr ins Haus zurückzukehren. Sie sprachen kein Wort, als sie den Hügel hinaufgingen,
zu sehr schmerzte Ilana der Verlust der geliebten Schwester. Erst als sie schweigsam in ihren Gemächern verschwunden war,
wurde Nona klar, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie in dieser Nacht schlafen sollte. Ilana war so von Trauer über den Verlust
ihrer Schwester erfüllt, dass sie kaum daran gedacht hatte, irgendjemanden anzuweisen, für Nona einen Raum herzurichten. Trotzdem
wagte es Nona nicht, noch einmal an Ilanas Tür zu klopfen und zu fragen. Unschlüssig, was sie tun sollte, ging sie hinaus
in den Garten und setzte sich nahe der Tür auf eine kleine Steintreppe. Müde schlang sie die Arme um ihren Körper und sog
die blütenschwangere Luft des Gartens ein. Was für ein Tag! Doch sie lebte … allen |50| Widerständen zum Trotz saß sie hier und atmete den süßen Duft der Blumen und der schweren Erde ein. Was taten ihre Gefährtinnen
nun? Waren sie in Muruks Reich angekommen, in seinem Reich aus Feuer und Blut? Kämpften sie dort auf den Schlachtfeldern und
fragten sich, warum sie nicht zu ihnen gestoßen war? Wieder plagte sie das schlechte Gewissen. Sie hatte versagt … sie war
zu feige gewesen, ihr Schicksal anzunehmen. Sie hatte leben wollen … und sie lebte!
Warum kann ich nicht glücklich sein und die Sterne am Himmel genießen, die ich glaubte niemals wiederzusehen?
»Nona, Menschin, ist unglücklich«, wurde sie abrupt aus ihren trüben Gedanken gerissen. »Sosehr hat dieser Tag ihr Leben verändert,
dass sie nicht weiß, was sie fühlen soll.«
Nona erschrak, als sie die Stimme Dawons vernahm. Misstrauisch legte sie den Kopf in den Nacken und sah hinauf in den Baum,
doch dieses Mal hatte es der Greif vorgezogen, sich ihr auf weniger überraschende Art und Weise zu nähern. Als er etwa drei
Schritte von ihr entfernt stand, hob sie die Hand. »Bleib dort stehen! Ich will nicht, dass du näher kommst«, wies sie ihn
an.
Dawon suchte sich einen Steinsockel und hockte sich darauf, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er bot einen beinahe rührenden
Anblick, wie er dort saß und schmollte, da sie ihn zurückwies. Seine Gestalt war so ebenmäßig, dass er einer Statue glich
mit seinen Schwingen und dem schönen Gesicht. Nona fragte sich, wie etwas so Schlechtes gleichzeitig so schön geraten sein
konnte. Gegen Dawons Schönheit verblasste sogar Liandras.
»Warum mag Nona Dawon nicht?«, fragte er enttäuscht. »Was hat Dawon getan?«
»Du bist ein Greif«, antwortete Nona kühl. Alles in ihr gemahnte sie zur Vorsicht, sich nicht auf ein Gespräch mit ihm einzulassen.
»Die Greife sagen, Dawon gehöre nicht zu ihnen, und die Menschen behaupten das Gleiche. Wohin soll Dawon also gehören?«
|51| »Das ist mir vollkommen egal. Hauptsache, du verschwindest aus meiner Nähe«, stellte Nona mitleidlos klar. Warum suchte er
ständig ihre Nähe, obwohl sie ihn doch so offensichtlich ablehnte? War es der Jagdtrieb der Greife, der alles für sie interessant
machte?
Er blickte sie irritiert an. »Aber Dawon lebt hier. Ilana hat gesagt, Dawon soll hier bleiben.« Er wies mit einer ausladenden
Geste in den Garten.
Nona hatte keine Lust, weiter mit dem Greif zu reden. Seine Silberzunge, so wusste sie von Liandra, konnte gefährlich sein.
»Wenn Ilana dich sosehr schätzt, warum lässt sie dich nicht in ihrem Haus leben?«, erklärte sie voller Verachtung.
Dawon legte den Kopf zur Seite, so als dächte er ernsthaft über ihre Worte nach. Seine Antwort kam scheinbar arglos und freundlich
in seiner angenehm klangvollen Stimme. »Wie sollte Dawon auf einem Menschenlager schlafen können?« Er spannte die Flügel zum
Hinweis. »Dawon braucht Bäume und Vögel und Luft. Dawon lebt hier, denn hier gefällt es ihm.« Er wies erneut hinauf in die
Bäume. »Dawon schläft dort, denn von da oben kann er alles sehen und
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