Blutschwestern
Körper der Geopferten und säumten die Straße. Akari blickte in die Gesichter
der Menschen, die sie anstarrten. Dungun hatte erstmalig seit dreizehn Sommern wieder eine Königin. Doch trotz ihrer Neugierde
waren die Gesichter der Menschen leer. Sie wussten nichts von der Sonne, die in Dungun nicht schien, da dicke Wolkenschichten
den Himmel verhängten, sie wussten nichts vom Duft der Blumen, da der Gestank des Todes alles Lebendige überdeckte. |55| Sie lebten, sie trugen ähnliche Kleidung wie die Menschen in Engil, vielleicht nicht so farbenfroh, doch keinesfalls Lumpen.
Sie gingen ihrem Tagewerk nach, aber selbst die wenigen Kinder hockten lustlos vor den Häusern, anstatt zu lachen und miteinander
zu spielen. Die Menschen Dunguns lebten … und doch waren sie leblos!
Akari hatte sich auf die Lippen beißen müssen, um nicht zu weinen, so sehr ängstigte sie dieses Land. Die Greife hatten sich
von ihnen getrennt, als sie den Fuß des Mugurgebirges erreicht hatten. Sie selbst war mit den anderen weiter nach Dungun gereist.
Auf Karren, die von Falbrindern gezogen wurden, hatten sie Wegzehrung und Zelte mit sich geführt, und so waren sie wegen des
Umwegs, der sie die Wälder von Isnal umrunden ließ, fast einen Mondumlauf unterwegs, bis sie Dungun schließlich erreichten.
Nun schlief sie bereits seit einigen Tagen in der eisigen Kammer. Ihre Glieder hatten alle Geschmeidigkeit verloren, und ihr
Herz war schwer von Kummer und Heimweh. Trotzdem, so schwor sich Akari, würde sie durchhalten. Sie würde ihre Schwester nicht
verraten, und sie würde den Fluch Muruks brechen. Bei der Liebe Salas wollte sie nicht so werden wie die lebenden Toten, welche
Dungun bewohnten – und schon gar nicht wollte sie deren Königin sein.
Der oberste Priester des Muruk, ein hässlicher Mann mit einem bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Gesicht, hatte sie am Tag
nach ihrer Ankunft empfangen und sie in den Tempel Muruks gebracht. Karok, so hieß er, hatte ihr das blutige Mal des Gottes
auf die Stirn gedrückt, dann musste Akari in seinem düsteren Heiligtum vor Muruks Statue niederknien. Noch nie zuvor hatte
Akari dem Gott ins Auge geblickt. In Engil gab es zwar ein Heiligtum Muruks, doch es enthielt kein Abbild des Gottes. Und
nun starrte ihr der Gott direkt in die Augen, sein steinernes Abbild zeigte den Kopf eines Schjacks und den Körper eines untersetzten
Menschen.
Sala,
hatte Akari beim Anblick Muruks gedacht,
wer kann dir
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Vorwürfe machen, dass du vor ihm geflohen bist?
Sie hatte vor ihm gekniet und ihm trotz ihrer Abneigung den Respekt erwiesen, der einem Gott zustand. Doch als Karok ihr einen
Silberbecher mit geronnenem Blut reichte, von dem sie trinken sollte, hatte sie sich geweigert.
»Es ist das Blut Muruks«, wies sie der Hohepriester zurecht, Akari verweigerte jedoch trotzig den ihr gereichten Bluttrunk.
»Ich achte ihn, aber ich liebe ihn nicht, ich bete nicht zu ihm«, hatte sie in einem Anflug von Mut gesagt, und Karok war
es schwergefallen, seinen Zorn zu verbergen.
»Wie du meinst, Königin Akari! Früher oder später wirst du ihn lieben.«
»Niemals!«, hatte Akari gerufen und war aufgesprungen. »Ich bin eine Tochter der Sala, und mein Herz ist stark! Das Gift Muruks
wird mich meiner Schwester nicht entfremden.«
Der Hohepriester lachte, ein scheußliches meckerndes Lachen, das schließlich abrupt endete. Seine Augen hatten sie aus seinem
vernarbten Gesicht angestarrt. »Das, meine Königin, haben sie alle gesagt. Und wie sie alle wirst auch du dich der Macht Muruks
beugen müssen.«
Akari erschauderte bei dem Gedanken an das Gespräch mit Karok. Er hatte sie nicht gezwungen, das dunkle Blut zu trinken, doch
am nächsten Tag war sie erneut aufgefordert worden, und sie hatte wieder abgelehnt. So war es nun jeden Tag geschehen. Akari
fragte sich, wie lange er sie noch gewähren lassen würde.
Mit steifen Gliedern erhob sie sich vom Ruhebett und ging hinüber zum Fenster. Sie spähte hinunter auf die Straße, die wie
leergefegt dalag. Nur die Körper der Geopferten säumten sie nach wie vor.
Er wird mich zwingen, Muruks Blut zu trinken, er wird versuchen, mein Herz zu vergiften,
ging ihr immer wieder der Gedanke durch den Kopf. Akari dachte an Ilana und spürte, wie Tränen über ihre Wangen liefen. Ihre
Schwester hatte sich eine neue Gefährtin erwählt. Diese Nona, die eigentlich schon längst in Muruks dunklem |57| Reich sein sollte, hatte nicht
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