Blutskinder
mich mit einem Briefblock und einem Füller unter meine weiche Sofadecke und halte Natashas Babyschuh in der Hand. Den ich damals auf der Hauptstraße gefunden habe und den mir die Polizei in einer kleinen Plastiktüte aushändigte – später, nachdem man die Suche nach ihr aufgegeben hatte.
Das tue ich an jedem Samstag im Januar, dem Monat, in dem Natasha verschwand, und immer am 6. November, ihrem Geburtstag. Ansonsten versuche ich, ein normales Leben zu führen. Keiner weiß, dass ich mal ein Baby hatte.
Liebe Natasha Jane Varney, (jetzt, da sie schon groß ist, rede ich sie besser mit ihrem vollen Namen an) ich kann Dir die erfreuliche Mitteilung machen, dass es Deiner Mutter, Mrs Cheryl Susan Varney, gut geht. Sie ist noch am Leben und wünscht, Du wärst es auch. Sie hofft, dass euer beider Seelen gerettet werden. Sie ist sehr traurig, weil sie Dich niemals auf einer Schaukel anschubsen durfte oder Dir eine Geburtstagsfeier ausrichten oder Dir Würstchen mit Bohnen kochen …
So geht das nicht. Ich knülle auch dieses Blatt zu einer kleinen Kugel zusammen und werfe sie zu den anderen in den Papierkorb. Im Fernsehen läuft jetzt ein Werbespot. Ich mag keine Werbung. Die wollen uns nicht einfach ein Produkt verkaufen, sondern uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Wer sagt denn, dass wir unbedingt in einem Badezimmer duschen müssen, durch dessen Glastür man auf einen weißen Strand blickt, wo ewig die Sonne scheint? Und dann wollen sie uns auch noch weismachen, dass wir nur dieses tolle neue Shampoo zu benutzen brauchen, und schon ist unser Haar so lang und glänzend wie bei dem dürren, halb nackten Model auf dem Bildschirm. Vielleicht sollte ich es ja doch mal mit diesem Shampoo versuchen. Vielleicht verwandelt sich mein feuchtes, schimmeliges Bad dann in einen Strand auf den Bermudas. Vielleicht ist dann mein ganzes bisheriges Leben wie weggewischt, und ich bekomme meine Natasha zurück. Und kann noch mal ganz von vorn anfangen.
Ich weiß genau, dass die Wagentür abgeschlossen war.
Solange die Werbung läuft, suche ich in der Küche nach Alkohol. Es nervt mich, dass ich keinen vernünftigen Brief an meine Tochter zustande bringe. Andere Mütter schaffen das doch auch.
Ich finde nur den Kochsherry. Ich verstecke die klebrige Flasche unter meinem abgetragenen Pullover und schleiche auf Zehenspitzen zurück ins Wohnzimmer. Dann stelle ich mich vor das Fenster, wo man mich mit Sicherheit sehen kann, und nehme einen hastigen Zug.
Es ist nämlich so, dass ich die ganze Zeit über beobachtet werde. Das kann verschiedene Gründe haben. Vielleicht hat Gott ja Mitleid mit mir und breitet seine Flügel über mich wie über all die anderen vergessenen, nutzlosen Kreaturen auf der Welt. Es könnte aber auch mein Schutzengel sein. In diesem Fall ist es bestimmt Natasha, denn der Engel kennt mich offenbar ziemlich gut. Vielleicht aber – und das ist am wahrscheinlichsten – bin ich zurzeit nur ein bisschen angespannt und nicht ganz auf der Höhe. Manche würden es Schuld nennen, ich nenne es mein Leben.
Also stelle ich mich beim Trinken ans Fenster und hoffe, dass mich jemand dabei sieht. Dann hätte ich wenigstens einen Grund, mich beobachtet zu fühlen.
Da! Eine Frau führt in der trüben Dämmerung ihren Hund aus. Sie starrt direkt in mein gemütliches Zimmer und ertappt mich beim Picheln. Ich ziehe selten die Vorhänge zu; so können die Passanten einen Blick auf mein Leben werfen, und ich kann raten, wohin sie wohl unterwegs sind. Manche gehen immer zur gleichen Zeit an meinem schmalen Reihenhäuschen vorüber. Ich habe mir Namen und Eigenschaften, ja sogar ein ganzes Leben für sie ausgedacht. Es sind meine unbekannten Freunde.
Marjory geht morgens immer die Zeitung holen. Einmal hat sie versucht, ein bisschen zu joggen, und sich dazu einen Jogginganzug aus rosa Samt angezogen. Doch auf dem Rückweg ging sie schon wieder langsam. Sie schwitzte und war ganz rot im Gesicht. Wenn keine Ferien sind, kommen morgens um acht Uhr fünfundzwanzig und nachmittags um zehn vor vier die Schulkinder vorbei. Jetzt, da Natasha auch schon ein Teenager ist, sehe ich es nicht mehr so gern, wenn die Jugendlichen vor meinem Gartentor herumlungern. Dann ist mein handtuchgroßer Vorgarten immer mit Coladosen, Chipstüten und Zigarettenkippen übersät. Wenn Frederick vorbeigeht, klopfe ich ans Fenster und lächele ihm zu. Er kauft sich jeden Tag Zungenwurst für sein Frühstücksbrot. Früher war er einer meiner
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