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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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die Dame hinter dem Schreibtisch zu machen. Robert betrachtete es als gutes Omen, dass er den Spitzenrand von Erins Strumpf unter ihrem Rock hervorlugen sah. Nun wusste er, dass alles gut gehen würde.
    »Offen gestanden, Mr und Mrs Knight, ich wünschte, wir hätten mehr Mädchen wie Ruby.« Miss Aucott nahm die Brille ab und blickte mit leicht zusammengekniffenen Augen zu dem Flügel am anderen Ende der langen, eichengetäfelten Bibliothek hinüber. Robert hatte beinahe vergessen, dass Ruby auch anwesend war, obgleich ihre Musik noch immer wie ein Schwarm Schmetterlinge in dem riesigen Raum zu schweben schien.
    »Komm, setz dich zu uns, Ruby.« Als Miss Aucott lächelte, überzog ein Netz feiner Fältchen ihr gepudertes Gesicht. Das Mädchen rutschte vom Klavierhocker und machte sich auf den langen Weg zum Schreibtisch der Schulleiterin. Robert sah, wie die Schultern seiner Frau ein wenig nach vorn sackten. Ihre Anspannung ließ offenbar nach. Er hätte am liebsten laut gejubelt, Ruby in die Arme genommen und Erin an sich gedrückt, aber das ging nicht. Nicht bevor die Direktorin offiziell gesagt hatte, dass Ruby aufgenommen war.
    Seine Stieftochter ging ein wenig unbeholfen über das polierte Parkett. Einer ihrer Schuhe mit den Kreppsohlen quietschte beim Laufen. Für alles, was sie durchgemacht hatte, hielt sie sich ganz gut, dachte er.
    Ruby ließ sich auf der äußersten Kante des Stuhls nieder. Jetzt, da sie nicht mehr am Klavier saß, wirkte sie wegen ihrer linkischen Haltung, der leicht glänzenden Nase und den vereinzelten Pickeln auf der Stirn wie irgendein beliebiger Teenager. Robert betrachtete sie mit liebevollem Blick.
    Er war so stolz auf sie, auf ihre Tapferkeit, ihre Selbstbeherrschung, die sie an diesem Morgen aller Aufregung zum Trotz aufgebracht hatte! Ruby hatte ihre wilde schwarze Mähne ordentlich gekämmt und trug, ebenso wie ihre Mutter, ein klassisches, etwas langweiliges Kostüm. Doch abgesehen von der Kleidung hatten die beiden erstaunlich wenig Ähnlichkeit. Robert machte Ruby diskret ein Zeichen, dass sie sich eine lose Haarsträhne hinter das Ohr streichen sollte, und frohlockte innerlich. Er war jetzt ganz zuversichtlich, dass alles gut ausgehen würde. Nichts wünschte er sich mehr, als dass seine Familie glücklich war.
    »Ruby, du bekommst einen Platz hier am Greywood College. Normalerweise nehmen wir mitten im Schuljahr keine neuen Schüler auf, aber in deinem Fall machen wir eine Ausnahme.« Miss Aucotts Worte klangen ein wenig triumphierend, so als habe sie einen seltenen Fang gemacht. Sie setzte ihre Brille wieder auf und las aus der Akte vor: »Über siebenundneunzig Prozent bei allen drei Tests. Eine erstaunliche Leistung, junge Dame.«
    Errötend senkte Ruby den Kopf. Robert bemerkte ihr flüchtiges Lächeln, und sah, wie sich ihre Brust hob und senkte, als sie erleichtert aufatmete. Für einen winzigen Augenblick wurden ihre Augen dunkler. Er hätte sie am liebsten in die Arme genommen. Mit ihren dreizehn Jahren ließ sie das noch zu.
    »In erster Linie geht es natürlich um dein musikalisches Talent.« Miss Aucott beugte sich ein wenig über den Rosenholzschreibtisch und faltete die Hände auf der Tischplatte. Sie sprach jetzt leiser, als habe sie Angst, die Beute zu verscheuchen, die sie sich unbedingt für ihr College sichern wollte. Als sei Ruby ein faszinierendes wildes Tier, das behutsam gezähmt werden wollte. »Viele unserer jungen Damen haben Talent.« Die Direktorin verstummte, als habe sie ihre Stimme nicht mehr ganz in der Gewalt. Vielleicht hatte auch Rubys Klavierspiel für einen Augenblick das wahre Wesen der verkniffenen, strengen Schulleiterin zum Vorschein gebracht.
    »Wir wissen, dass Ruby etwas Besonderes ist«, unterbrach Erin sie. »Nicht nur wegen ihrer Musik …« Sie zögerte kurz und ergriff Rubys Hand. »Sie ist einfach etwas Besonderes.«
    Robert warf ihr einen leicht tadelnden Blick zu und bedeutete Miss Aucott mit einem Nicken, fortzufahren.
    »Du wirst mit acht anderen Mädchen in eine Klasse gehen, Ruby. Sie alle haben musikalisches Talent. Wir stellen unsere Klassen gern nach Begabungen zusammen. Der Unterricht beginnt um halb neun und endet um vier.« Miss Aucott holte tief Luft und nahm ihre Brille wieder ab. »Sie haben unseren Prospekt gelesen und den Rundgang durch das Gebäude gemacht. Haben Sie noch Fragen?«
    Robert erwartete, dass Erin die Schulleiterin mit besorgten Fragen bombardieren würde, doch seine Frau hob mit einem

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