CREEKERS - Thriller (German Edition)
PROLOG
RAUE HÄNDE entkleideten sie vor dem gesprungenen Spiegel.
»Du bist die Perfekteste von uns allen«, drang das ebenso raue Flüstern an ihr Ohr. Sie konnte die Hitze des Atems spüren, die Hitze, die in den Worten selbst lag.
Doch dann sickerten weitere Worte durch ihren Verstand:
So perfekt …
So wertvoll …
So wunderschön …
»Jaaaaaaa!«, seufzte die Stimme hinter ihr.
So wunderschön … für Ihn.
Nur wenige Kerzen beleuchteten die untere Stube. Sie konnte sich selbst im Spiegel sehen und hinter ihr den Reverend – einen seltsamen, hochgewachsenen Schatten im schwarzen Gewand mit herabhängender Kapuze, die sein Gesicht verbarg.
»So wunderschön für Ihn«, flüsterte er.
Wunderschön , dachte sie. Ja, das war sie. Viel schöner als die anderen Mädchen. Rein , so nannte man sie und die wenigen anderen, die wie sie zur Welt kamen. Eine Reine . Ein reines Mädchen. Eine reine Frau. So wenige wurden jemals rein geboren …
Die großen Hände des Reverends streiften ihr abgetragenes Kleid ab wie ein Hemd aus zerfallenem Seiltuch. Sie hielt völlig still. Zu allen erdenklichen Zeitpunkten ausgezogen zu werden, war nichts Neues für sie; sie war daran gewöhnt, genau wie an die Dinge, die jedes Mal danach passierten. Nun leuchtete ihr nacktes Fleisch hell in den dunklen Sprüngen des Spiegels: geschmeidige weibliche Kurven, makellose Haut, lange Beine und hohe, volle Brüste. Ihre Haare, glänzend und fein wie schwarze Seide, umrahmten ihr jugendliches, bemerkenswert attraktives Gesicht. Einmal hatte sie gefragt, warum die Männer aus der Stadt deutlich weniger für sie bezahlten. »Weil du rein bist, Kind«, sagte man ihr. »Du bis’ nich’ so potthässlich wie die meisten ander’n. Man kann kaum sehen, dass du ’n Creeker bist, außer an dein’ Augen.«
Sie hatte das nie verstanden. Sie sollten MEHR zahlen, wo sie doch so viel hübscher war, oder nicht?
Doch heute Nacht war es anders. Irgendwie spürte sie das. Es waren keine Männer aus der Stadt im Haus und es lag etwas in der Luft, das ihre Haut zum Kribbeln brachte. Wie damals, als sie bei Colls Feld draußen eingeschlafen und über und über mit Marienkäfern bedeckt wieder aufgewacht waren.
Wir haben es endlich geschafft, nach all dieser Zeit –
»– endlich!«, flüsterte der Reverend.
Und dann wirbelten wieder die anderen Stimmen durch ihren Kopf:
Ona-prei-se!
Uns-zu-komm!
Ona-prei-se!
Nachdem sie völlig entkleidet war, streichelte der Reverend über ihr rabenschwarzes Haar und strich es ihr aus dem Gesicht. Ihre Augen suchten im Spiegel nach ihrer eigenen Gestalt …
Sie waren hell und klar und in dem großen Irispaar lag nur ein winziger roter Schimmer …
Als Nächstes führte man sie … nach oben. Ihr war seltsam schwindlig zumute. Die alte Holztreppe knarzte unter ihren Füßen, als die großen Hände des Reverends sie zum nächsten Absatz dirigierten. Die Hände der anderen reckten sich ihr entgegen, um sie zu berühren, wenn sie vorbeiging.
Die Hitze dieser hochsommerlichen Mitternacht bedeckte sie innerhalb weniger Augenblicke mit Schweiß.
»Ja, du bist die Perfekteste von uns allen – «
– also schick dich an und segne uns.
Die Tür schloss sich hinter ihr. Als einzige Lichtquelle im langen, hohen Raum diente das Mondlicht, das durchs Fenster hereinschien. Ein seltsamer Geruch drang ihr in die Nase, und nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm sie merkwürdige Umrisse auf den staubigen Holzbohlen des Bodens wahr.
Dann bewegte sich etwas.
Der Mann schritt aus dem Schlund der Finsternis heraus.
Es war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Groß und schlank, Muskeln wie aus Stein gemeißelt, starke Arme und kräftige Beine. Sein freundliches Gesicht blickte sie an.
Er sprach kein einziges Wort.
Er war ganz anders als die Männer, die sonst zu ihr kamen: Männer, die sie schlugen, an ihren Haaren zogen, sie bespuckten und in ihre Brustwarzen bissen, bis sie vor Schmerzen schrie. Dieser Mann war liebevoll und zärtlich. Seine sanften Hände auf ihren Brüsten erfüllten sie mit Wärme, nicht mit Abscheu.
Und als er sie küsste …
Visionen durchströmten sie. Gefühle. Wellen von Liebe, stärker als die Hitze der Mittagssonne. Mit fürsorglichen Händen bettete er sie auf den Boden; sein Lächeln schien zu leuchten wie ein Heiligenschein. Er kommunizierte ohne Worte mit ihr. Versicherte ihr, wie wunderschön sie war, wie wertvoll, und dass er sie mehr liebte als
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