Blutstein
steinerne Treppe erreicht hatten, ließ er sie
los und stieg auf seinen Gehstock aus Kastanienholz gestützt behutsam eine
Stufe nach der anderen hinauf zur Eingangstür.
Gerlof konnte zwar noch selbst laufen, aber er war dankbar, dass
seine Tochter ihn stützte. Und er war froh, dass Ella nicht mehr lebte. Er wäre
ihr nur eine große Last gewesen.
Er holte den Schlüssel aus seiner Tasche und schloss auf.
Die stickige Luft verschlossener Räume schlug ihm entgegen, als er
die Glastür öffnete. Abgestanden und ein bisschen feucht, aber es roch nicht
nach Schimmel. Die Dachziegel schienen noch intakt zu sein. Zum Glück entdeckte
er auch keine kleinen schwarzen Kügelchen, als er über die Schwelle trat. Die
Mäuse überwinterten in der Regel im Fundament des Hauses und kamen nur selten
in die Wohnräume.
Julia war übers Wochenende auf die Insel gekommen, um ihm beim Umzug
zu helfen und klar Schiff zu machen. Frühjahrsputz nannte sie das. Natürlich
war Gerlof der eigentliche Besitzer des Häuschens, aber seit vielen Jahren
nutzten es seine beiden Töchter und deren Familien als Sommerhaus. Und im
Sommer würden sie sich in den kleinen Zimmern arrangieren müssen.
Kommt Zeit, kommt
Rat , dachte er.
Nachdem sie Gerlofs Gepäck ins Haus gebracht, den Strom eingeschaltet
und die Fenster zum Lüften geöffnet hatten, gingen sie wieder hinaus in den
Garten.
Abgesehen vom Geschrei der Sturmmöwen unten am Strand wirkte der Ort
an diesem Samstagvormittag vollkommen menschenleer und verlassen. Doch
plötzlich hörten sie von der anderen Seite der Hauptstraße harte Hammerschläge.
Sie hallten weit über die Landschaft.
Julia sah sich irritiert um.
»Da ist jemand zugange.«
»Ja«, erläuterte Gerlof, »die bauen drüben am Steinbruch.«
Gerlof war nicht überrascht, im vergangenen Sommer hatte er einen
Ausflug in die Stadt gemacht und beobachtet, dass auf zwei großen Grundstücken
neben dem Steinbruch sämtliche Bäume und Büsche gefällt und entfernt worden
waren und eine Walze den Erdboden bearbeitet hatte. Seine Vermutung war, dass dort
zwei weitere Sommerhäuser entstünden, die wie so viele andere die meiste Zeit
des Jahres unbewohnt bleiben würden.
»Willst du dir das ansehen?«, fragte Julia.
»Gerne, lass uns rübergehen.«
Er nahm den Arm seiner Tochter, und gemeinsam verließen sie das
Grundstück durch das Gartentor.
Als Gerlof Anfang der Fünfzigerjahre sein Haus baute, hatte er noch
ungehinderte Sicht auf das Meer im Westen und auf den Kirchturm von Marnäs im
Osten. Damals gab es überall grasende Kühe und Schafe, die den Bewuchs in Schach
hielten. Aber das Vieh war schon lange verschwunden, und die Bäume und Büsche
hatten wieder die Herrschaft übernommen. Die Baumkronen bildeten nun ein
dichtes Dach, und als sie die Hauptstraße überquerten, konnte Gerlof nur einen
kurzen Blick auf den eisbedeckten Sund im Westen erhaschen.
Stenvik war ein altes Fischerdorf. Gerlof erinnerte sich gerne an
die Zeit, als die Kähne in der sanften Bucht in langen Reihen am Strand
nebeneinanderlagen und darauf warteten, zu den Fischernetzen gerudert zu werden,
die weiter draußen im Sund ausgeworfen worden waren. Schon lange waren sie alle
verschwunden und die Wohn- und Bootshäuser der Fischer waren zu Ferienhäuschen
umgebaut worden.
Sie bogen in den Kiesweg, der zum Steinbruch führte. ERNSTS WEG stand
in großen Lettern auf einem neuen weißen Schild.
Gerlof wusste, nach wem der Weg benannt worden war: Ernst war sein
Freund gewesen und hatte als Steinhauer als einer der letzten Bewohner des
Ortes bis zur Schließung Anfang der Sechzigerjahre im Steinbruch gearbeitet.
Auch Ernst gab es nicht mehr – nur sein Weg war geblieben. Gerlof versuchte
sich auszumalen, ob auch nach ihm eines Tages etwas benannt werden würde.
Als der Steinbruch vor ihnen auftauchte, sah Gerlof sofort, dass
Ernsts rotbraunes Backsteinhaus noch an Ort und Stelle stand, direkt an der
Kante des Steinbruchs. Es war verriegelt und winterfest gemacht. Das Kind einer
Cousine hatte es mit seiner Familie geerbt, als Ernst starb, aber sie hielten
sich fast nie dort auf.
»Oha«, sagte Julia. »Jetzt fangen sie auch hier an zu bauen.«
Gerlof wandte seinen Blick von Ernsts Haus und entdeckte die beiden
großen Villen, die Julia meinte. Sie standen, mit ein paar Hundert Metern
Abstand zueinander, auf der östlichen Seite des Steinbruchs.
»Sie haben wohl schon letzten Sommer begonnen, die Grundstücke
vorzubereiten«, sagte Julia
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