Blutstein
zugenommen, aber kein Arzt fand eine Erklärung.
Alle Pläne für den gemeinsamen Sommer waren auf einmal bedroht.
»Willst du Mama kurz anrufen, wenn wir da sind?«, fragte Per seinen
Sohn.
Jesper hob nicht einmal den Kopf.
»Weiß nicht.«
»Hättest du Lust, runter zum Strand zu gehen?«
»Weiß nicht«, wiederholte Jesper.
Er war so weit entfernt wie ein Satellit auf seiner Umlaufbahn –
aber wahrscheinlich war man heutzutage so mit dreizehn. Als Per in diesem Alter
war, war sein größter Wunsch, dass ihn sein Vater einmal besuchen kommen würde.
Plötzlich tauchte am Straßenrand ein Schild mit einer Tanksäule auf,
und Per bremste.
»Hast du Lust auf ein Eis? Oder ist das noch zu früh, jetzt im
Frühling?«
Jesper sah das erste Mal von seinem Gameboy auf.
»Lieber Süßigkeiten.«
»Wir werden sehen, was sie dahaben«, erwiderte Per und bog auf den
Parkplatz ein.
Sie stiegen aus. Trotz der Sonne war es eiskalt, dabei hatte Per
gedacht, dass es um diese Jahreszeit schon wesentlich wärmer auf der Insel
wäre. Aber offensichtlich schien das Eis draußen im Sund die Luft noch
beträchtlich abzukühlen. Der Wind pfiff durch seine grüne Daunenjacke, und er
bekam Sand in den Mund. Es knirschte zwischen den Zähnen.
Jesper blieb am Auto, während Per mit schnellen Schritten an den
Tanksäulen vorbeilief und im Windschatten am Kiosk Schutz suchte. Das Fenster
hinter der Scheibe war dunkel, dennoch klopfte er einige Male fest gegen das
Glas, bis er einen sonnenverblichenen Zettel entdeckte, der an der Tür klebte:
Haben Sie vielen
Dank für einen schönen Sommer –
Ab dem 1. Juni
sind wir wieder für Sie da!
April war eindeutig noch zu früh – die Insel war noch nicht wieder
aus ihrem Winterschlaf erwacht, und deshalb gab es für ganzjährig geöffnete
Geschäfte wohl eine zu geringe Nachfrage. Er hatte sich fünfzehn Jahre lang mit
Marktforschung beschäftigt und konnte das gut nachvollziehen.
Als er sich umdrehte, lehnte Jesper nicht mehr am Wagen, sondern
hatte sich auf eine Holzkiste mit der Aufschrift STREUSAND gesetzt. Er hatte ein neues
Spiel begonnen. Per ging auf ihn zu. In der Ferne hörte er das dunkle Donnern
von Motorengeräuschen. Ein weißer Fernlaster näherte sich mit hoher Geschwindigkeit
von Norden.
Per zog die Autoschlüssel aus seiner Hosentasche und rief Jesper zu:
»Keine Süßigkeiten, es tut mir leid. Die haben noch geschlossen.«
Jesper antwortete nur mit einem Nicken, und Per fuhr fort:
»Es gibt ja noch mehrere Tankstellen auf dem Weg nach Norden. Lass
uns weiterfahren, wir finden ...«
Ein dumpfer Aufprall auf der Straße schnitt ihm das Wort ab, gefolgt
von quietschenden Bremsen. Dann sah er gleißendes Sonnenlicht, das in einem
Autofenster reflektiert wurde.
Es war ein Audi, dessen Fahrer die Kontrolle über den Wagen verloren
hatte und quer über die Fahrbahn schlitterte, direkt auf den Fernlaster zu.
Per stand wie versteinert da und beobachtete die Szenerie. Der Wagen
musste mit etwas zusammengeprallt sein, erkannte er, Motorhaube und Windschutzscheibe
waren mit Blut verschmiert.
Wessen Blut war das?
Der Laster hupte anhaltend. Durch die verschmutzte Windschutzscheibe
des Pkws war der Fahrer zu erkennen, der gekrümmt hinter dem Steuer saß und
sich bemühte, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Als die Hupgeräusche des Lasters verstummten, war Per wieder in der
Lage, sich zu bewegen. Der Lkw war auf den Standstreifen ausgewichen. Per
beobachtete, wie der Audi für einen kurzen Augenblick aus der Spur geriet und
dann herumgerissen wurde.
Die Fahrzeuge rutschten haarscharf aneinander vorbei, denn der Audi
war ins Schleudern geraten und rutschte auf den Tankstellenparkplatz. Die
Reifen blockierten, und das Auto schlitterte mit großer Geschwindigkeit über
den Asphalt. Direkt auf die Kiste mit dem Streusand zu.
»Jesper!«, schrie Per.
Sein Sohn saß regungslos auf der Box. Nur seine Daumen bewegten sich
auf dem Gameboy.
Per fing an zu rennen, stolperte über den Asphalt.
»Jesper!«
Jetzt endlich hob er den Kopf. Und drehte sich mit geöffnetem Mund
und fragendem Blick zu seinem Vater um.
Der Audi rutschte ungebremst auf ihn zu, die Reifen schleuderten
Kies und Sand durch die Luft.
4
V endela
Larsson hatte auf dem Beifahrersitz neben Max gesessen und meditiert, als der
Unfall geschah. Mit gesenktem Blick war sie in ihren Gedanken versunken und
hatte die vorbeirauschenden Felder, Wiesen und Steinmauern nur wie in einem
Film
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