Blutsterne - Teile 1 + 2
Genugtuung wollte sie ihren Feinden nicht geben. Sie riss sich zusammen und bat um Stühle, da Ljoschka nicht stehen konnte. Der Zarewitsch lehnte bleich und erschöpft seinen Kopf an ihre Brust. Die Krankheit, der Sturz und die Entbehrungen der letzten Zeit waren für unseren Liebling zu schwer gewesen.
Man brachte tatsächlich zwei herbei. Darauf setzten sich beide. Der geschwächte Ljoschka legte seinen Oberkörper auf ihren Schoß.
Ich wusste, dass Mama unseren Tod erwartete.
Wollte man uns nicht doch wegbringen? Vielleicht waren Mamas schlimme Befürchtungen falsch und Medwedew sprach die Wahrheit?
Die gläserne Ampulle fühlte sich eisig in meinen Händen an. Die Kälte tat gut und lenkte ab.
Papa versuchte ebenfalls tapfer zu erscheinen. Als letzter Zar und Familienoberhaupt wollte er uns auch in dieser Stunde Mut machen und ein Vorbild sein, darum bekreuzigte er sich und murmelte Gebete. Was nutzte das?
Hätte er doch lieber die Angebote des deutschen Kaisers angenommen. Ich hatte daraus gelernt, dass Stolz uns nur im Wege stand und blind machte. Man sollte nicht auf etwas stolz sein. Genauso gut könnte man feststellen, man wäre dumm und dazu noch überheblich.
Trotz all der Aufregung hatte er offensichtlich bemerkt, dass Mama mir das Blut gegeben hatte. Unser Vater missbilligte als Gläubiger und Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche das, überließ aber allem, wie so oft, seinen Lauf. Was sollte er auch in diesem Moment sonst tun?
Unser Hausarzt, Dr. Jewgeni Botkin, stand neben Papa. Trotz der Kühle des Kellers rann fortwährend Schweiß von dessen Stirn. Seine wenigen Haare klebten dadurch an dieser. Er nestelte fortwährend nervös und ängstlich an der runden Brille. Seine Klugheit ließ ihn die Gefahr deutlich erkennen. Etwas hinter dem Doktor und Papa stand unser Koch. Ich befand mich in der äußersten Ecke neben Mamas Kammerfrau, die ein Kissen bei sich trug. Rechts vor mir stand Maria. Ich hatte somit alle gut im Blick. Anna Demidowa, so hieß die Bedienstete, hatte Mama ihr Kissen für Ljoschka angeboten, doch diese hatte es abgelehnt. Sie wollte ihn nicht von sich lassen.
Anastasija und Tatjana standen hinter Mama. Ich selbst hatte mich mit dem Rücken an den rundlichen Kamin gelehnt, der sich unmittelbar hinter mir befand.
In der Ferne hörten wir den Kanonendonner. Dumpf drang dieser durch die Wände des Kellerzimmers. Er war lauter geworden. Die Gefechte kamen rückten also näher.
Wir Mädchen, der Leibarzt, unser Diener, das Kammermädchen, der Koch und Papa standen. Insgesamt waren wir elf Gefangene. Es gab außer den zwei Stühlen keinerlei Möbel im Raum. Mama setzte nun den Zarewitsch auf den zweiten Stuhl. Er legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Papa, der nun neben ihm stand, streichelte liebevoll seine Hand.
Wie hatten wir das Leben mit unserem Baby genossen – so nannten wir unseren kleinen Bruder manchmal auch. War Ljoschka guter Dinge und fröhlich, schien der Sonnenschein überall im Palast. Ging es ihm durch die vielen Medikamente oder eine Verletzung schlecht, hingen düstere Wolken über unserer kleinen Insel.
Er musste leider immer äußerst vorsichtig sein. Das widersprach seinem ungestümen Wesen. Bei Spaziergängen wurde er darum sogar von zwei Kosaken getragen, über deren Verschiedenheit Alexej gern scherzte.
Die Leiden und Schmerzen seiner Krankheit hatten sein goldenes Herz noch mitleidsvoller gemacht. Jedem, der litt, spendete er selbst Trost. Er war einer dieser wenigen, ganz besonderen Menschen, die nur sehr selten in dieser hässlichen Welt geboren werden. Christen bezeichnen solche Menschen als „Heilige“, die Buddhisten nennen sie „Boddhisatvas“.
Ich hatte als älteste Schwester viel Zeit mit Ljoschka verbracht und bei seiner Erziehung geholfen – von Anfang an. Mama schimpfte manchmal mit mir, da ich ihm aus ihrer Sicht zu wenig Tischsitten beigebracht hatte. Aber wie sollte man diesem Charmeur denn Grenzen setzen? Einmal hatte Alexej beim Empfang einer Dame den Schuh ausgezogen und eine Erdbeere hineingesteckt. Deswegen durfte er lange Zeit nicht mehr mit anderen Gästen essen.
Anders als wir fühlte sich Ljoschka jedoch mehr als Russe denn als Deutscher. Papa hatte ihm das eingeredet, da er ein Zarewitsch und somit der zukünftige Zar war. Deswegen trug unser Bruder wie alle Romanows gern die russische Marineuniform und sprach bewusst nur diese Sprache. Selbst wenn Mama ihn außerhalb des Unterrichts etwas auf Deutsch fragte,
Weitere Kostenlose Bücher