Bob, der Streuner
angriff, entschieden, dass er sich auf mich nicht mehr verlassen konnte? Ich hätte schreien können vor Wut und Verzweiflung.
Belles Wohnung war bereits in Sicht, und mir war immer noch zum Heulen zumute. Wie sollte ich nur ohne Bob klarkommen? Einen Freund wie ihn würde ich nie wieder finden. Und plötzlich war da noch etwas: Die altbekannte Gier nach einem Schuss, die ich seit Jahren nicht mehr gespürt hatte.
Sofort versuchte ich, diesen Gedanken zu verdrängen, aber mein Unterbewusstsein kämpfte dagegen. Mein Leben hatte keinen Sinn mehr ohne Bob. Um die Trauer und den Schmerz zu ertragen, die mich jetzt schon übermannten, würde ich mich betäuben müssen.
Belle war, genau wie ich, ebenfalls seit Jahren clean. Aber ich wusste, dass ihre Mitbewohnerin Drogen nahm. Je näher ich der Straße kam, in der Belle wohnte, desto unbezähmbarer wurde mein Wunsch nach Betäubung.
Als ich vor Belles Wohnhaus stand, war es fast 22 Uhr. Ich war stundenlang durch die Straßen geirrt. Das durchdringende Heulen von Sirenen zerstörte die Stille. Die Polizei war unterwegs zu einer Schlägerei oder Messerstecherei in irgendeinem Pub. Egal – alles war nur noch egal.
Ich ging auf den schwach beleuchteten Hauseingang zu. Im Schatten neben dem Gebäude nahm ich eine dunkle Silhouette wahr. Eindeutig die Umrisse einer Katze, aber ich hatte schon aufgegeben und nahm an, es wäre ein Streuner, der vor der Kälte Zuflucht suchte.
Als er den Kopf drehte, sah ich sein Gesicht. Dieses einzigartige, wunderbare Gesicht.
»Bob!«
Er antwortete sofort mit einem anklagenden Miau. Genau wie damals, vor drei Jahren im Hausflur bei unserer ersten Begegnung. Es hieß: »Wo warst du denn? Ich warte schon ewig auf dich!«
Ich hob ihn hoch und drückte ihn überglücklich an mich.
»Ich bin fast gestorben vor Angst um dich. Du wirst mich noch umbringen, wenn du immer wegläufst!«, murmelte ich in sein Fell und wischte mir gleichzeitig die Freudentränen ab. Er kam mit seiner kalten Nase ganz dicht an mein Gesicht und leckte mir die letzten nassen Spuren mit federleichten Berührungen von der Wange. Währenddessen zermarterte ich mir den Kopf, wie er wohl zu Belles Wohnung gefunden haben könnte.
Im Nachhinein gesehen, war es das Nächstliegende. Warum hatte ich nicht gleich daran gedacht? Wir hatten Belle oft gemeinsam besucht und er war während meiner Australienreise sechs Wochen hier gewesen. Er hatte das einzig Richtige getan. Aber wie nur? Die Wohnung lag etwa drei Kilometer entfernt von unserem Platz an der Angel Station. Hat er den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt? Und wie lange wartete er hier schon?
Es war nicht mehr wichtig. Ich streichelte, kraulte und knutschte ihn, während er mir mit seiner rauen, trockenen Zunge die Hand ableckte, sein Gesicht an meinem rieb und seinen Schwanz um meinen Arm wickelte.
Nach einer Weile drückte ich auf Belles Klingel, und sie öffnete. Meine Weltuntergangsstimmung war einem unbeschreiblichen Glücksgefühl gewichen. Ich schwebte auf Wolke Sieben.
Belles Mitbewohnerin war auch da. »Na, brauchst du was zum Feiern?«, fragte sie mich und lächelte verführerisch.
»Nein, danke, kein Bedarf«, antwortete ich grinsend. Bob kratzte spielerisch an meiner Hand, und ich zog ihn liebevoll am Nackenfell. Ich strahlte Belle an und sagte: »Ein Bier wäre jetzt klasse!«
Bob brauchte keine Drogen, um die Nacht zu überstehen. Er brauchte nur seinen Freund, und das war ich. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich auch nichts anderes brauchte. Nur Bob. Nicht nur heute Abend, sondern solange ich die Ehre hatte, ihn bei mir zu haben.
21
Bob, der Big-Issue-Kater
E s war Ende März, die Sonne war gerade untergegangen, und die Abenddämmerung breitete sich über der Angel Station aus. London machte sich bereit für eine neue Partynacht. Auf der Islington High Street setzte der Feierabendverkehr ein, und das Hupkonzert wurde unerträglich. Die Bürgersteige waren voll mit Passanten, die in die Bahnhofshalle strömten oder daraus hervorquollen. Jeder war in Eile, alle hatten scheinbar ein wichtiges Ziel. Zumindest fast alle.
Ich zählte gerade meine Big-Issue- Exemplare, um sicherzugehen, dass ich noch genug Vorrat für den abendlichen Ansturm hatte. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine kleine Gruppe von Jugendlichen, die sich um uns geschart hatten. Drei Jungs und zwei Mädchen. Sie sahen aus wie Südamerikaner, Spanier oder Portugiesen.
Das war nichts Ungewöhnliches. Wir waren hier zwar nicht
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