Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
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Am letzten Tag des Monats Sindath, dem Tag, bevor der Rat der Könige zusammentreten sollte, traf eine seltsame Reisegesellschaft am Tor von Calavere ein.
Aryn überbrachte die Nachricht ihrer Ankunft; die Baronesse fand Grace im Ostflügel des Schlosses, wo sie sich mit Durge aufhielt. Eine Woche war vergangen, seit Grace sich bei dem Fest in den stürmischen Gewässern von Macht und Politik verloren gefühlt und der Ritter Durge ihr seine Hilfe zugesagt hatte. Inzwischen hatte Grace viel über die Kunst der Intrige gelernt.
»Die wichtigste Regel bei jeder Auseinandersetzung lautet: Wartet nie, daß Euer Feind zu Euch kommt. Kommt ihm zuvor und geht zu ihm«, hatte der Ritter am Morgen nach dem Fest in Graces Gemach gesagt.
Grace, die auf und ab ging, war wie angewurzelt stehengeblieben und hatte den Ritter angestarrt. »Selbst, wenn man im Nachteil ist?«
Durge sah sie mit seinem üblichen Ernst an. »Erst recht, wenn man im Nachteil ist. Wenn Ihr schon sterben müßt, so habt Ihr doch zumindest den Ort selbst bestimmt.«
Grace unterdrückte den Drang, sich mit einem Schrei Luft zu machen. Sie würde die anderen Adligen niemals bei ihrem eigenen Spiel bezwingen können. Eigentlich hätte sie gleich das Wort Anfänger auf ihr Gewand sticken können. Aber wenn sie Durges Ratschläge nicht annahm, blieb ihr nichts anderes übrig, als König Boreas mitzuteilen, daß sie ihm beim Rat nicht helfen konnte. Und wenn Grace eines noch mehr angst machte als ihre Tätigkeit als Spionin, dann der Zorn des mächtigen Königs von Calavan.
Also hatte sie einen Seufzer von sich gegeben, der an einen Verurteilten ohne jede Aussicht auf Gnade denken ließ. »Fangen wir an?«
Tatsächlich machte diese eine Woche aber einen Unterschied. In den Tagen seit jenem Morgen voller Unsicherheit war Graces Selbstvertrauen gewachsen – erst zaghaft, dann in immer größeren Schritten.
Durge und sie hatten nacheinander jeden der am Rat teilnehmenden Adligen befragt – die Höflinge, die Berater, die Seneschalle. Sie warteten immer auf den günstigsten Moment, in der Regel, bis ihr Opfer allein war, dann schlugen sie zu. Für Durge war es vielleicht so etwas wie ein Krieg, für Grace unterschied es sich nicht sehr von der Medizin: beobachte, erstelle eine Diagnose, dann operiere mit einem scharfen Skalpell. Sie durfte die Adligen eben nicht als Menschen ansehen, sondern als Fälle, die behandelt werden mußten, dann unterschied sich ihre Tätigkeit kaum von einer Schicht in der Notaufnahme des Denver Memorial Hospitals.
An jenem Nachmittag hatten sie es auf Lord Sul abgesehen, den Ersten Berater von Persard, dem greisen, aber immer noch recht lebhaften König von Perridon. Sul war ein ausgesprochen reizbarer Mann und besonders schwer zu erwischen gewesen. Sie waren ihm fast eine Stunde lang nachgegangen, bis sich ihnen eine Gelegenheit bot, die sie ergriffen. Sie trennten sich, kamen aus verschiedenen Richtungen auf den Berater zu und nahmen ihn in einem Korridor in die Zange. Sul war ein Mann wie eine Maus, mit großen Ohren und einem feinen Schnurrbart, der in ständiger Bewegung zu sein schien. Der Blick aus seinen schwarzen Augen huschte von dem Ritter zu der Lady und wieder zurück. Grace mußte sich auf die Lippe beißen, um ein Lächeln zu verbergen.
»Sagt mir, Sul«, bat Durge, »stimmt es, was man sich von Eurem König erzählt?«
Sul nestelte am Kragen seines Wamses herum. »Ich weiß ganz bestimmt nicht, worauf Ihr hinauswollt, Mylord.«
»Ach nein?« Der embarranische Ritter drängte den Berater an die Wand. »Ich habe gehört, daß Persard den Rat der Könige auffordern will, alle Gebiete entlang des Nordufers des Schlangenschwanzflusses an Perridon abzutreten. Aber Ihr wißt genauso gut wie ich, daß das Nordufer des Flusses zu Embarr gehört.«
Sul blinzelte. »Aber mein König hat keine derartigen Pläne!«
»Ihr lügt natürlich«, sagte Durge. »Ich weiß, daß Ihr nicht anders könnt, Sul. Ihr seid eben ein Perridoner. Es widerspricht einfach Eurem Wesen, die Wahrheit zu sagen. Aber in Embarr kennt man Methoden, einen Lügner dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. Für die meisten dieser Methoden benötigt man eine eiserne Zange, die in glühenden Kohlen erhitzt wurde.«
Dem Berater fielen fast die Augen aus dem Kopf, er rang nach Worten. Jetzt war Grace dran. Sie legte eine Hand auf Durges Arm und bemühte sich um einen möglichst flehentlichen Blick.
»Mylord, ist Gewalt denn wirklich nötig?
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