Bockmist
er noch lebte. Das finden Sie vielleicht herzlos, aber so bin ich nun mal.
Ich wischte mir den Schweiß vom Gesicht und ging in die Diele hinüber. Ich wollte horchen, aber selbst wenn sich im Haus oder draußen auf der Straße etwas gerührt hätte, wäre es mir wohl entgangen, denn mein Herz führte sich auf wie ein Preßluftbohrer. Vielleicht lärmte draußen auch wirklich ein Preßluftbohrer. Ich war zu sehr damit beschäftigt, koffergroße Luftbrocken einzuatmen, als daß ich etwas gemerkt hätte.
Ich öffnete die Haustür und spürte sofort kühlen Nieselregen im Gesicht. Er mischte sich mit dem Schweiß und verdünnte ihn, verdünnte den Schmerz im Arm, verdünnte alles, und ich schloß die Augen und ließ es regnen. Es gehörte zum Schönsten, was ich je erlebt habe. Ihrer Ansicht nach habe ich dann vielleicht ein armseliges Leben hinter mir. Aber schauen Sie, das hängt doch alles vom Kontext ab.
Ich lehnte die Tür an, ging zum Bürgersteig hinunter und zündete mir eine Zigarette an. Schrittweise und unwillig beruhigte sich mein Herz, und nach einiger Zeit folgte ihm mein Atem. Im Arm tobte der Schmerz, und ich wußte, daß er mich einige Tage, wenn nicht Wochen, begleiten würde, aber wenigstens war es nicht der Arm, den ich zum Rauchen brauchte.
Ich ging ins Haus zurück. Rayner lag noch so da, wie ich ihn verlassen hatte, in einer Lache aus Erbrochenem. Er war tot oder schwer verletzt, und beides konnte mir mindestens fünf Jahre einbringen. Zehn, wenn ich für schlechte Kinderstube eine Zugabe bekam. Und so wie das hier aussah, war sie schlecht gewesen.
Sehen Sie, ich war schon im Gefängnis. Nur drei Wochen und nur in Untersuchungshaft, aber wenn man zweimal täglich mit einem einsilbigen West-Ham-Fan Schach spielen muß, der Haß auf die eine Hand tätowiert hat und Haß auf die andere – und in dessen Schachspiel sechs Bauern, alle Türme und zwei Läufer fehlen –, dann lernt man, die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen. Beispielsweise, nicht im Gefängnis zu landen.
Ich hing diesen und verwandten Gedanken nach, dachte an all die heißen Länder, die ich nie gesehen hatte, als mir klarwurde, daß dieses Geräusch – dieses leise, dielenknarrende, schabende Kratzgeräusch – definitiv nicht von meinem Herzen herrührte. Ebensowenig von meiner Lunge oder aus anderen Regionen meines geschundenen Körpers. Dieses Geräusch stammte eindeutig aus der Außenwelt.
Jemand oder etwas machte sich an das absolut aussichtslose Unterfangen, geräuschlos die Treppe herabzukommen.
Ich ließ den Buddha, wo er war, griff nach einem potthäßlichen Tischfeuerzeug aus Alabaster und glitt zur ebenfalls potthäßlichen Tür. Wie man denn eine potthäßliche Tür entwerfen könne, fragen Sie sich? Nun, es ist nicht ganz einfach, zugegeben, aber glauben Sie mir, tüchtige Innenarchitekten schütteln so was vor dem Frühstück aus dem Ärmel.
Ich versuchte die Luft anzuhalten, schaffte es nicht und wartete geräuschvoll. Irgendwo ging Licht an, blieb an, ging wieder aus. Eine Tür öffnete sich, Pause, auch da nichts, schloß sich. Keine Bewegung. Nachdenken. Mal im Wohnzimmer nachschauen.
Ich hörte Stoffrascheln, leises Füßetappen, und plötzlich entkrampfte sich meine Umklammerung des alabasternen Feuerzeugs, und fast erleichtert lehnte ich mich an die Wand. Selbst in meinem verschreckten und verwundeten Zustand hätte ich die Hand dafür ins Feuer gelegt, daß Nina Riccis Fleur de Fleurs einfach kein Kampfgas ist.
Sie blieb in der Tür stehen und sah sich im Zimmer um. Das Licht war aus, aber die Vorhänge standen weit offen, und von der Straße fiel genug Licht herein.
Ich wartete, bis sie Rayner erblickt hatte, bevor ich ihr die Hand auf den Mund preßte.
Wir tauschten die üblichen Nettigkeiten aus, die Hollywood und der Knigge vorschreiben. Sie versuchte zu schreien und mich in die Hand zu beißen, und ich sagte, sie solle still sein, denn ich würde ihr nur weh tun, wenn sie schreie. Sie schrie, und ich tat ihr weh. Reine Routine das Ganze.
Nach einiger Zeit setzte sie sich auf das scheußliche Sofa und hielt sich an einem Wasserglas Brandy fest, wie ich dachte, aber es stellte sich als Calvados heraus, und ich stand an der Tür und stellte mein gewieftes »Psychiatrisch bin ich eins a«-Lächeln zur Schau.
Rayner hatte ich auf die Seite gerollt, in eine Art stabile Seitenlage, damit er nicht an der eigenen Kotze erstickte. Oder der eines anderen, was das anging. Sie wollte
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