Bodin Lacht
vermenschlichen. Die Gans stieà einen rauen Laut aus.
Sie versuchte sich wieder aufzurichten, schien den Hals herauszustrecken aus dem grauen Anzug und quakte flatternd. Sie tat ihm leid mit ihrer Plumpheit, die kein Attribut der wilden Gänse ist, mit ihrem eisernen Willen, aus der verzweifelten Lage herauszukommen. Er näherte sich vorsichtig und sprach sie leise an, hallo Angela, ich will dir nur Gutes tun, lass mich mal gucken. Der Vogel hatte gar keine Schussverletzung erlitten, er gehörte auch gar nicht zu den Wildgänsen, die vorhin vorbeigezogen waren, eine hiesige Gans war es und ein Angelhaken steckte in einem Fuà und eine Nylonschnur, um das Bein gewickelt, hatte sich in das Fleisch hineingefressen. Verdammte Angler. Wahrscheinlich erlitt der Vogel Höllenschmerzen und hatte keine Kraft sich aufzurichten, nach Nahrung zu suchen und davonzufliegen. Martin kramte in seinem Rucksack nach einem Messer, um die Schnur zu lösen, zerstreute seine Siebensachen auf der Wiese, fand keines, packte dann vorsichtig die wehrlose Gans in seine Jacke, legte sie in den Fahrradkorb, und so fuhren sie zur Mutter, die ganz in der Nähe wohnte und sich mit Tierpflege auskannte. Um ihren Fängen zu entkommen, hatte Martin eine kleine Dachwohnung in der Stadt gemietet. Sie bezahlte die Miete.
Der Weg zu ihrer Villa führte an einem Ausflugsparkplatz entlang, wo mehr Wagen als sonst parkten, Wagen, die er zuerst für die Fahrzeuge der Spaziergänger und Jogger hielt, aber es fuhren neue dazu, darunter ein Polizeiwagen und ein Leichenwagen. Sein Kopf füllte sich mit Bildern von Ertrunkenen (das wäre nicht das erste Mal, dass ein Unglücklicher seinem Leben in diesem See ein Ende machte), und er dachte auch an den Schuss, den er vorher gehört hatte, und der die Gans doch nicht getroffen hatte. Er fuhr schnell vorbei und wollte solche bedrückenden Gedanken wegjagen, denn in puncto Verdrängung war Martin unbestreitbar normal: Er beschäftige sich nicht gern mit dem Tod und trat also heftig in die Pedale. Lieà gern seine Beinmuskeln spielen, spürte gern den Wind um die Ohren. Bald radelte er in die Allee hinein, einen geraden, mit hohen Platanen gesäumten Weg, der zum Haus seiner Mutter führte. Abgefallene gelbe Blätter raschelten unter den Fahrradreifen, und es wehte ein vertrauter Duft von Herbst.
FELD 3: LILIANE HOFFMANN IM SCHILF
Als Schiedsrichter zwischen Pan und Apollo vergab König Midas den Preis für die schönste Musik an Pan. Wütend zog Apollo darauf Midasâ Ohren zu zwei Eselsohren lang. Midasâ Frisör verriet ihn nicht, er musste aber das Geheimnis loswerden; also grub er ein Loch in die Erde und schrie es hinein und machte das Loch wieder zu. Später aber wuchs ein Schilf heraus, welches das Geheimnis dem in die Welt pfeifenden Wind nachplapperte.
Frei nach O VID
Hauptkommissar Christoph Angler fuhr den Wagen, neben ihm Jurek, der Praktikant, ein eifriger Schleimer. Liliane Hoffmann und Andreas Moser saÃen hinten, zwischen ihnen ein leerer Sitz, doch meinte Liliane, Andreasâ Körperwärme zu spüren und seinen Geruch. Sie kurbelte das Fenster herunter. Es zieht, klagte er sofort. Sie reagierte nicht. Sollte er sich den Tod holen. Sie schaute die Landschaft an. Alles flach. Hörst du schlecht? Er beobachtete sie von der Seite, ironisch. Sie spürte diesen Blick, ein mit all den Erinnerungen an die vorige Nacht beladener Blick. Etwas knarrte gerade im Funk, Andreas nutzte Anglers Ablenkung und die des Praktikanten, die dazu Kommentare austauschten, um sich zu Liliane zu beugen: Was ist los mit dir, warâs gestern nicht schön? Er stieà sie am Arm. Sie wandte sich zum Fenster hin, er erfasste ihr Bein, ein Flüstern durch geschlossene Lippen, es war doch geil, oder? Sie kräuselte den Mund in seine Richtung, er las fälschlicherweise ein »Ja« heraus: Wer aus einem Nein ein Ja herausschälen möchte, konnte das leicht. Andreas triefte vor Unaufrichtigkeit, sein ganzes Wesen bestand aus Unaufrichtigkeit, er war die Unaufrichtigkeit in Person. So reichte das Kräuseln der Lippen, um ihn zu beruhigen, um ihn zu bestätigen, na also, wusste ichâs doch, er setzte sich wieder zufrieden gerade hin. Wir sind da, sagte Hauptkommissar Angler, also los. Sie stiegen aus und ein uniformierter Kollege, der auf sie gewartet hatte, lotste sie weiter. Ab hier muss man zu FuÃ, sagte er, ein
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