Böser kleiner Junge (German Edition)
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Das Gefängnis stand zwanzig Meilen von der nächsten Kleinstadt entfernt mitten in der fast unablässig vom Wind heimgesuchten Prärie. Das Hauptgebäude war ein steingewordener Albtraum, mit dem man zu Beginn des 20. Jahrhunderts die weite, menschenleere Landschaft verunstaltet hatte. In den letzten fünfundvierzig Jahren waren zu beiden Seiten nach und nach weitere Zellentrakte angebaut worden – zum Großteil mit dem stetigen Strom von Staatsgeldern, den man in den Nixon-Jahren bewilligt hatte und der seither nicht mehr versiegt war.
Ein Stück vom eigentlichen Gefängniskomplex entfernt befand sich das kleinere Gebäude, das die Gefangenen den Nadelpalast nannten. An einer Seite ragte der sogenannte Hühnerhof heraus, eine ungefähr vierzig Meter lange und sechs Meter breite Freifläche, die von schwerem Maschendrahtzaun umgeben war. Die Insassen des Nadelpalasts – gegenwärtig waren es sieben – durften jeden Tag zwei Stunden im Hühnerhof verbringen. Manche gingen spazieren. Andere joggten. Die meisten saßen einfach mit dem Rücken an den Maschendraht gelehnt da und starrten entweder in den Himmel oder auf den niedrigen Grashügel, der in ungefähr einer Viertelmeile Entfernung die eintönige Landschaft durchbrach. Manchmal gab es dort etwas zu sehen, meistens jedoch nicht. Und ständig blies der Wind. Drei Monate im Jahr war es im Hühnerhof heiß, die übrige Zeit war es kalt. Im Winter sogar eiskalt. Doch selbst dann wollten die Gefangenen ins Freie. Immerhin konnte man den Himmel betrachten. Vögel. Gelegentlich sogar Rehe, die auf der Kuppe des niedrigen Hügels ästen.
Das Zentrum des Nadelpalasts bildete ein gefliester, mit einem Y-förmigen Tisch und den nötigsten medizinischen Geräten ausgestatteter Raum. In einer der Wände war ein Fenster mit zugezogenem Vorhang. Wenn man ihn öffnete, kam der Beobachtungsraum zum Vorschein, nicht größer als das Wohnzimmer eines gewöhnlichen Einfamilienhauses. Von einem Dutzend Hartplastikstühle aus konnten die Zuschauer auf den Y-förmigen Tisch blicken. An der Wand hing ein Schild: BITTE VERZICHTEN SIE WÄHREND DES VORGANGS AUF GESPRÄCHE UND GESTEN.
Der Nadelpalast verfügte über exakt zwölf Zellen. Dahinter schlossen sich die Wachstube, der rund um die Uhr besetzte Überwachungsraum und der Besucherraum an, in dem eine dicke Plexiglasscheibe den Tisch der Gefangenen von dem ihrer Gesprächspartner trennte. Auf Telefonhörer hatte man verzichtet – die Insassen kommunizierten mit ihren Angehörigen oder ihren Rechtsvertretern durch kleine, kreisförmig angeordnete Löcher im Glas, die an die Sprechmuschel eines altmodischen Telefonapparats erinnerten.
Leonard Bradley setzte sich auf seine Seite der Trennscheibe und öffnete die Aktentasche. Er legte einen Notizblock und einen Kugelschreiber vor sich. Dann wartete er. Der Sekundenzeiger seiner Armbanduhr schaffte drei Umdrehungen und hatte gerade die vierte in Angriff genommen, als sich die Tür, die weiter in den Nadelpalast hineinführte, mit dem lauten Klacken schwerer Metallriegel öffnete. Inzwischen kannte Bradley alle Wärter. Heute hatte McGregor Dienst. Ein ganz netter Kerl. Er führte George Hallas am Arm in den Raum. Hallas’ Hände waren nicht gefesselt, zwischen den Füßen rasselte jedoch eine Kette. Über dem orangefarbenen Gefängnisoverall war ein breiter Ledergürtel um seine Taille geschlungen. Sobald er sich auf seiner Seite vor die Trennscheibe gesetzt hatte, führte McGregor eine weitere Kette durch den Eisenring am Gürtel und den an der Rückseite der Stuhllehne. Er ließ das Schloss einrasten, zog prüfend an der Kette und begrüßte dann Bradley, indem er mit zwei Fingern gegen die Stirn tippte.
»Hallo, Mr. Bradley.«
»Hallo, Mr. McGregor.«
Hallas sagte nichts.
»Sie wissen ja, wie’s läuft«, sagte McGregor. »Heute dürfen Sie so lange mit ihm reden, wie Sie wollen. Beziehungsweise so lange, wie Sie’s mit ihm aushalten.«
»Ich weiß.«
Für gewöhnlich waren die Unterredungen zwischen Anwalt und Klient auf eine Stunde beschränkt. Einen Monat vor dem angesetzten Termin des Klienten im Raum mit dem Y-förmigen Tisch wurde diese Zeitspanne auf neunzig Minuten verlängert, damit der Anwalt und sein zunehmend nervöser werdender Partner in diesem staatlich angeordneten Todestanz die ständig schrumpfende Zahl immer aussichtsloserer Alternativen besprechen konnten. In der letzten Woche wurde das Zeitlimit völlig aufgehoben, was nicht nur für den
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