Böser kleiner Junge (German Edition)
schlug so fest auf den Ball, dass die Gummischnur abriss. Doch an jenem Tag spielte ich damit, während ich auf Marlee wartete. Natürlich hatte mir niemand befohlen, auf sie zu warten. Für mich war das selbstverständlich.
Endlich kam sie aus der Schule. Sie weinte. Ihr Gesicht war feuerrot, und der Rotz lief ihr aus der Nase. Ich fragte sie, was los sei, und sie sagte, sie könne ihre Lunchbox nicht finden. Wie jeden Tag hatte sie ihr Mittagessen herausgenommen und sie dann auf das Regalbrett in der Garderobe neben Cathy Morse’ rosa Barbie-Lunchbox gelegt. Nach Schulschluss war sie verschwunden. Jemand hat sie gestehlt, sagte sie.
Aber nein, irgendwer hat sie woanders hingetan, sagte ich. Morgen ist sie wieder da. Und jetzt hör auf zu heulen und halt still. Du siehst ja fürchterlich aus.
Mama Nonie bestand darauf, dass ich stets ein Taschentuch dabeihatte, wenn ich das Haus verließ. Natürlich putzte ich mir wie alle anderen Jungs die Nase mit dem Ärmel ab. Taschentücher waren was für Memmen. Deshalb war es auch noch sauber und ordentlich gefaltet, als ich es aus der Gesäßtasche zog und ihr damit den Rotz aus dem Gesicht wischte. Sie hörte auf zu weinen und grinste. Das kitzelt, sagte sie. Dann nahm sie meine Hand, und wir gingen nach Hause, genau wie immer. Sie plapperte wie ein Wasserfall. Das war mir ganz recht, weil sie so wenigstens nicht mehr an die Lunchbox dachte.
Bald darauf trennten sich die anderen Kinder von uns, und wir hörten sie noch eine Weile auf ihrem Weg nach Rudolph Acres lachen und herumalbern. Marlee quasselte vor sich hin; wie immer erzählte sie mir einfach alles, was ihr durch den Kopf ging. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, sagte gelegentlich ja und aha und echt, aber eigentlich war ich in Gedanken ganz woanders. Wenn Mama Nonie keine Hausarbeit für mich hatte, würde ich in meine alte Cordhose schlüpfen und meinen Baseballhandschuh holen. Dann wollte ich zum Spielplatz in der Oak Street laufen und dort Baseball spielen, bis die Mütter ihre Kinder zum Abendessen heimholten.
Auf einmal rief uns jemand von der anderen Seite der School Street etwas zu. Es klang irgendwie nicht wie eine menschliche Stimme. Eher wie Eselsgeschrei.
GEORGE UND MARLEE SITZEN IM BAUM UND K-N-U-T-S-C-H-E-N!
Wir hielten an. Vor dem Zürgelstrauch gegenüber stand ein pummeliger Junge. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen, weder in der Schule noch sonst wo. Er war keine eins dreißig groß und trug graue Shorts, die ihm bis zu den Knien reichten, und einen grünen Pullover mit orangefarbenen Streifen, unter dem sich seine kleinen Brüste und der runde Bauch abzeichneten. Und er hatte eine von diesen bescheuerten schirmlosen Mützen mit einem Propeller obendrauf auf dem Kopf.
Sein Gesicht war irgendwie gleichzeitig schwammig und fest. Sein Haar leuchtete so orange wie die Streifen von seinem Pullover – genau die Farbe, die niemand leiden kann – und stand zu beiden Seiten über den Segelohren ab. Die Nase war ein kleiner Knubbel unter den hellsten grünen Augen, die ich je gesehen habe. Der Mund besaß einen schmollenden Amorbogen, und die Lippen waren so rot, dass es fast so aussah, als hätte er den Lippenstift seiner Mutter aufgetragen. Hatte er natürlich nicht. Seither habe ich viele Rothaarige mit ähnlich roten Lippen gesehen, wenn auch nie mit so roten Lippen wie die von dem bösen kleinen Jungen.
Wir standen da und starrten ihn an. Marlees Geplapper verstummte. Sie trug eine Katzenaugenbrille mit rosa Gestell und Gläsern so dick wie Flaschenböden, und die großen Augen dahinter waren angsterfüllt.
Der Junge – er konnte nicht älter als sechs oder sieben gewesen sein – spitzte diese roten Lippen und machte schmatzende Kussgeräusche. Dann legte er die Hände auf den Hintern und stieß das Becken in unsere Richtung.
GEORGE UND MARLEE SITZEN AUF DEM BAUM UND B-U-M-S-E-N!
Er wieherte wie ein Esel. Wir starrten ihn gebannt an.
Du ziehst dir mal lieber einen Pariser über, wenn du sie bumst, rief er zu uns herüber und verzerrte die roten Lippen zu einem hämischen Grinsen. Oder willst du ’nen Haufen Vollidioten kriegen, wie sie einer ist?
Halt bloß dein Maul, sagte ich.
Oder was, sagte er.
Oder ich stopf es dir, sagte ich.
Mir war es todernst. Mein Vater wäre zwar stinksauer geworden, hätte er gewusst, dass ich einem Jungen Prügel androhte, der jünger und kleiner war als ich, aber der hatte kein Recht, solche Sachen zu sagen. Er sah zwar aus wie ein kleiner Junge,
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